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Verpuffung statt Mehrbelastung

Belasten Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung benachbarte Straßennetze? So lautet ein populäres Gegenargument. Langfristige Messungen in europäischen Städten zeigen, dass das so nicht stimmt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Als der britische Premierminister Rishi Sunak eine Studie seines Verkehrsministeriums über die Low Traffic Neighbourhoods (LTNs) in den Händen hielt, war die Überraschung groß. Monatelang waren er und seine Tory-Regierung populistisch mit dem Verkehrsthema auf Stimmenfang gegangen. In Interviews stellte sich Sunak „an die Seite der Motorisierten“. Wetterte gegen eine weitere Ausweitung der Umweltzone ULEZ auf die Londoner Vororte. Legte sogar einen Plan vor gegen die 15-Minuten-Stadt, Busspuren und – verkehrsberuhigte Viertel. Seine Argumente gegen die LTNs lauteten: Menschen vor Ort würden die Verkehrsberuhigungsmaßnahmen ablehnen. Nachbarbezirke mit mehr Verkehr belastet. Niemand komme mehr mit dem eigenen Auto von A nach B. Feuerwehr und Krankenwagen würden im Einsatz behindert. Die eigens vom Premier in Auftrag gegebene Studie sollte diese Argumente nur noch mit Daten unterfüttern. Möglicherweise, um im nächsten Schritt den Rückbau der LTNs anzugehen. Die britische Tageszeitung „The Guardian“ berichtet, dass der nächste Schritt ein anderer war: das Zurückhalten einer Veröffentlichung der Studienergebnisse – auch wenn die Regierung eine Verzögerung dementiert. Klar ist: Bei der Untersuchung trat gerade das Gegenteil des Gewünschten zutage. Eine Mehrheit der befragten Anrainer*innen befürworten die eingeführten Maßnahmen. Notfalleinsätze in den LTNs hätten sich nach Anfangsschwierigkeiten eingependelt. Eine zusätzliche Belastung der umliegenden Straßennetze wurde nicht beobachtet. Bewahrt vor ihrem tiefen Fall bei den Kommunalwahlen hat der Kulturkampf gegen eine klimafreundliche Verkehrspolitik die Torys auch nicht wenig.

Low Traffic Neighbourhoods sind populär und wirken im erwünschten Sinn. Seit der Implementierung 2021 werden auch im Ortsteil Highbury in London Islington mehr lokale Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigt.

Flächenhafte Verkehrsberuhigung effektive

Was bei der LTN-Studie herauskam, zeigt sich ebenso als Trend in neueren Untersuchungen europäischer Städte. So hat das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) durchgeführte Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung in unterschiedlichen Stadtstrukturen analysiert. Dafür wurden Projekte mit Vorher-Nachher-Erhebungen in flächenhafter und linienhafter Verkehrsberuhigung eingeteilt. Im letzten Fall beschränken sich Maßnahmen auf einzelne Straßen. Zum Beispiel Fahrradstraßen. In Flächenprojekten werden einzelne Viertel oder ganze Innenstädte umgestaltet. Projektleiterin Uta Bauer hält sie für besonders wirkungsvoll: „Bei flächenhafter und konsequenter Gestaltung ist ein Verkehrsraum attraktiver und besser erlebbar, als wenn ich nur ein paar Hundert Straßenmeter umgestalte. Das lässt sich leichter mit dem Auto umfahren. Gestalte ich ein ganzes Areal oder einen Stadtteil, wird die Umgehung schwieriger.“ Als Beispiele nennt das Difu neben anderen die Superblocks in Barcelona oder die Low Traffic Neighbourhoods in London.

Uta Bauer, Difu-Projektleiterin

Verhaltensänderung bewirkt Verpuffung

In den meisten Erhebungen bestätigt sich das Phänomen einer „Traffic Evaporation“. Uta Bauer sagt: „Wird in den Straßenraum eingegriffen, um Verkehre zu reduzieren, gehen viele Prognosen davon aus, dass sich an anderer Stelle genauso viel Verkehr wiederfinden müsste. Was man jedoch in Vorher-Nachher-Messungen sieht: Der motorisierte Individualverkehr verpufft. Er taucht nicht in gleicher Größenordnung woanders auf.“ Die Größenordnung einer solchen Verpuffung liegt laut Difu bei flächenhaften Verkehrsberuhigungsprojekten zwischen 15 und 28 Prozent. Bei gesamten Innenstädten sogar bis 69 Prozent. Im Umfeld einzelner Straßen zwischen 4 und 52 Prozent.
Obgleich die Messungen durchaus Verlagerungseffekte in angrenzende Straßen zeigen, sind sie moderat. Grund dafür ist ein verändertes Verkehrsverhalten. Je attraktiver Fuß- und Radwege sind, umso häufiger beanspruchen die Menschen sie. Uta Bauer: „Gerate ich jeden Morgen in einen Stau, überlege ich mir, ob ich weiter sehenden Auges da hineinfahren will. Verbessert man den Verkehr für Fußgänger und Fahrradfahrer, sagen sich Menschen, ich brauche nicht ins Auto zu steigen. Sind die Wege sicher, schicke ich mein Kind auch alleine los und chauffiere es nicht.“
Umgekehrt ist der Effekt bei einem weiteren Ausbau von Autostraßen. „Die neuen Befunde korrelieren mit Erkenntnissen über Verkehrserzeugung aus den 1960er-Jahren. Infrastruktur, die man fürs Auto baut, wird zum Autofahren genutzt. Bis die neuen Fahrspuren wieder voll sind“, sagt die Projektleiterin. Wird das Fahren mit dem Auto attraktiv, werden weiter entfernte Ziele gewählt. Die tägliche „Unterwegszeit“ verändert sich jedoch kaum. Sie liegt seit Jahrzehnten bei etwa 80 Minuten pro Tag. Die alte Erkenntnis „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten“, scheint in der Politik noch immer nicht angekommen. So will der Bundesverkehrswegeplan 2030 Verkehrsstaus nach wie vor mit mehr Autobahnkilometern bekämpfen.

Schon seit 2016 setzt Barcelona systematisch Superblocks im gesamten Stadtgebiet um. Mittlerweile sind 13 Superblöcke implementiert oder befinden sich in einer konkreten Planungsphase.

Superblocks sind langfristig erfolgreich

Seit 2016 setzt Barcelona systematisch Superblocks im gesamten Stadtgebiet um. Inzwischen sind 13 Superblöcke implementiert oder befinden sich in der konkreten Planungsphase. Ziele sind die Verbesserung der Lebensqualität in Wohnvierteln, die Stärkung von Einzelhandel und Gas-tronomie sowie die Reduzierung von Lärm- und Luftschadstoffbelastungen. Werden Straßen und Plätze neu aufgeteilt, dürfen neben Rettungs-, Liefer- und Versorgungsfahrzeuge nur noch Anrainer*innen und Lieferverkehr mit 10 km/h die Quartiere durchfahren. Öffentliche Verkehrsmittel, Fahrrad- und Fußgängerwege verleiten Autofahrer dazu, ihr Fahrzeug stehen zu lassen.Xavier Matilla Ayala überwachte das Projekt während seiner Amtszeit. Im Hinblick auf spätere Verlagerungseffekte spricht der Stadtarchitekt von zwei Beobachtungsmomenten. Sechs Jahre nach der Implementierung habe man festgestellt, „dass es einen ersten Moment gibt, in dem Fahrzeuge vor einer Fußgängerzone versuchen, auf umliegende Straßen auszuweichen.“ Diese Beobachtung scheint der klassischen Argumentation gegen Verkehrsberuhigungsmaßnahmen zunächst recht zu geben. „Später gibt es einen zweiten Moment. Das Verkehrsaufkommen in den Nachbarstraßen sinkt und kehrt in den Ausgangszustand zurück.“ So wurde in der Superilla de Sant Antoni die Calle Borrell im Jahr 2018 zur Fußgängerzone erklärt. Ein Jahr später nahm der Autoverkehr in der angrenzenden Straße um 20 Prozent zu. Vier Jahre danach ist er nahezu derselbe wie vor dem Superblock. In Sant Antoni verringerte sich der Kfz-Verkehr in den verkehrsberuhigten Straßen um 82 Prozent. Der Fußverkehr nahm um 28 Prozent zu.

Xavier Matilla Ayala, Stadtarchitekt Barcelona

Untersuchungszeiträume beeinflussen die Ergebnisse

Xavier Matilla weist deshalb auf den entscheidenden Zeitfaktor bei Evaluierungen von Projekten hin: „Man sollte sich bewusst sein, dass diese Maßnahmen Zeit brauchen. Daher sollte man auch geduldig sein.“ Dass unterschiedliche Untersuchungszeiträume zu anderen Ergebnissen über Belastung und Verpuffungseffekte führen, räumt auch Uta Bauer ein: „Dauert die Evaluation nur ein paar Wochen, lassen sich Veränderungseffekte weniger nachweisen als bei einem längeren Zeitraum. In Verkehrsversuchen beobachtet man häufig ein Jahr. Aber die Interventionszeiträume variieren. In Hamburg-Ottensen hat es eine Klage gegeben und der Verkehrsversuch ist vorzeitig abgebrochen worden. Beispiele aus London und Barcelona, wo flächendeckend über Jahre gemessen wird, sind valider für Aussagen über die Wirkung von Maßnahmen.“
Das Difu verweist auch auf eine Studie, die stadtweit für Barcelona öffentliche Verkehrszählungsdaten betrachtet. Diese erweiterte Perspektive scheint für zukünftige Evaluationen interessant. Darin wurden nicht nur Verkehrszählungen im unmittelbaren Projektgebiet ausgewertet. Die Zahlen wurden in Beziehung zur Verkehrsentwicklung von Straßen im weiteren Umkreis sowie im Rest der Stadt gesetzt. Demnach verringerte sich das Verkehrsaufkommen in den Straßen mit Interventionsmaßnahmen um 14,8 Prozent. In der Umgebung ging das Verkehrsaufkommen im Vergleich um knapp ein Prozent zurück. In unmittelbar angrenzenden Parallelstraßen zu den von Maßnahmen betroffenen Straßen wurde ein Anstieg um 0,7 Prozent des Verkehrsaufkommens verzeichnet.

Londons Mini-Hollands gelten als kleine Superblocks. Zu den eingeführten Maßnahmen dort gehören Tempolimits und Kfz-Durchfahrtssperren sowie umgestaltete Straßen und Plätze zu „Pocket Parks“.

Mini-Hollands und Low Traffic Neighbourhoods

Kleine Superblocks am Londoner Stadtrand wie in Waltham Forest heißen „Mini-Hollands.“ Dort wurden Tempolimits und Kfz-Durchfahrtssperren sowie umgestaltete Straßen und Plätze in Form von „Pocket Parks“ eingeführt. Der Kfz-Verkehr nahm um 50 Prozent innerhalb des Areals ab, um 5 Prozent auf unmittelbar anschließenden Hauptstraßen. Ähnliche Effekte gab es in den citynahen Low Traffic Neighbourhoods. Durch die Einrichtung von Einbahnstraßen sowie bauliche und gestalterische Elemente in Form von Pollern oder Blumenkübeln wurde der Durchgangsverkehr unterbunden. Der Umstiegsprozess braucht mitunter ein bis zwei Jahre. Dann gehen auch dort mehr Verkehrsteilnehmerinnen zu Fuß oder fahren mit dem Fahrrad. Eine weitere Studie, die insgesamt 46 LTNs einschließt, belegt die Abnahme des Autoverkehrs um durchschnittlich 47 Prozent innerhalb der LTNs. Der Verkehr an umgebenden Hauptstraßen nahm durchschnittlich um ein Prozent zu. Messungen im Londoner Bezirk Lambeth zeigen, dass Anrainerinnen seit Umsetzung eines LTN etwa 1,3 Kilometer weniger pro Tag mit dem Auto zurücklegen. Ein weiterer Befund, der die Behauptung widerlegt, dass die erzwungenen Umwege automatisch zu mehr gefahrenen Kfz-Kilometern führen.

50 %

In den Mini-Hollands halbierte
sich der Kfz-Verkehr.
Auf anschließenden Hauptstraßen
sank er um fünf Prozent.

Der Transformationsprozess ist nicht aufzuhalten

Restriktive Maßnahmen, die den Autoverkehr in den Städten reduzieren, wirken. Uta Bauer erklärt dazu: „Solange Menschen schneller mit dem Auto von A nach B kommen und umsonst parken können, nutzen sie dieses Angebot. Restriktiv bedeutet, dass das Parken etwas kosten muss. Dass die Wahrscheinlichkeit sinkt, einen Parkplatz zu bekommen. Ich muss dem Autoverkehr etwas an Fläche und Bequemlichkeit wegnehmen. Auf den vielen kurzen Wegen in den Städten ist das durchaus zumutbar. Nur dann werden das Fahrrad, Zufußgehen und der ÖPNV attraktiver.“ Die beschriebenen Effekte sollten bei der Modellierung von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen in Kommunalpolitik und Verwaltungen stärker abgebildet werden.
Denn die Erfahrungen europäischer Städte zeigen auch, dass Transformationsprozesse anfangs Widerstand und Gegenwehr auslösen. In der katalanischen Hauptstadt finden verkehrsberuhigte Zonen den Zuspruch der Anwohnerinnen, führten aber auch schon zu Protesten und Klagen. So ordnete ein Verwaltungsgericht wegen planungsrechtlicher Fehler an, die grüne Achse an der Consell-de-Cent-Straße den Autofahrerinnen zurückzugeben. Das Urteil wird nach Meinung von Xavier Matilla die Superblockprojekte nicht aufhalten: „Derzeit sind die meisten Menschen von dem Ergebnis begeistert. Selbst die Kläger sagten nach der Urteilsverkündung, dass sie keinen Aufschub für die Arbeiten fordern würden. Zwar gibt es immer noch einige Autolobbys gegen Superblocks. Ebenso gibt es starke soziale Bewegungen, die mehr fordern und durchsetzen. Ich bin davon überzeugt, dass der Transformationsprozess nicht mehr aufzuhalten sein wird.“ So haben gerade drei weitere Stadtteile ihre Teilnahme am Superblock-Programm beantragt. Und im Difu-Papier heißt es: „Nach einigen Monaten verstummen die meisten Gegenstimmen und der städtische Straßenraum gewinnt an Lebensqualität zurück.“

Weniger Autos, flüssigere Verkehre

Als Ursache für die Klage in Barcelona wird eine fehlende Bürgerbeteiligung genannt. Vorbeugend hilfreich gegen Proteste ist eine entsprechende Kommunikation. So hat Uta Bauer auch eine positive Botschaft für Kfz-Nutzer*innen im Gepäck. Sie hört man bei Ankündigung von Eingriffen in den Verkehr noch zu selten: „Die Zahlen machen deutlich: In Städten wird die Fahrgeschwindigkeit von Autos dort schneller, wo sich ein Teil der Verkehrsteilnehmer anders fortbewegt. Wer auf das Auto angewiesen ist, profitiert also letztendlich. Auch der Lieferverkehr gewinnt, wenn die Masse an Autos, die unterwegs ist, weniger wird. Der Effekt ist, dass die verbleibenden Autofahrer besser und schneller vorankommen. Dieses Positive müsste mehr in den Vordergrund gestellt werden.“


Mehr Informationen:

Difu-Papier:
https://difu.de/sites/default/files/media_files/Verkehrsberuhigung_blo.pdf

Department for Transport (DfT) / Research Report:
https://assets.publishing.service.gov.uk/media/65f400adfa18510011011787/low-traffic-neighbourhoods-research-report.pdf

Bilder: Josep Maria de Llobet, David Ausserhofer – Difu – 2015, TB, Xavier Matilla Ayala, Ayuntamiento de Barcelona, ADFC – Gomez