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Im Fahrradtourismus sicher einmalig ist die von Anfang an auf Synergiegewinnung ausgerichtete Pionierarbeit des Schweizer E-Bike-Herstellers Flyer und der Planer der Herzroute. Die Erfolgsgeschichte, die gerade ihr 25-jähriges Jubiläum feiert, kann weltweit als Vorbild für Planer, Touristiker und Visionäre gelten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Der Gedanke an eine attraktive, mit Motorunterstützung für ganz neue Nutzergruppen fahrbare Route ist älter als das E-Bike selbst. Inspiriert durch eine Radreise durch die USA machte sich der Schweizer Paul Hasler mit seinem „Büro für Utopien“ an ein ehrgeiziges Projekt. Seine Vision: eine Fahrradroute, welche die Kultur und Vielseitigkeit der Schweiz porträtiert. Heute führt die 1989 gegründete Herzroute vom Bodensee über dreizehn Etappen, 720 Kilometer und insgesamt 12.000 Höhenmeter durch die schönsten Gegenden der voralpinen Schweiz zum Genfer See und zieht jährlich über 30.000 Besucher an.

E-Bike eröffnet neue touristische Perspektiven

Flussradwege stehen bei Radtouristen nicht zuletzt wegen der geringen Höhenunterschiede hoch im Kurs. Mindestens genauso reizvoll sind aber auch gut ausgebaute bergige Strecken abseits des Autoverkehrs. Sie bieten einmalige Weite und Fotopanoramen, an denen man sich zumindest in der Schweiz kaum sattsieht. Wie kann man die Region besser für Touristen und nicht nur für durchtrainierte Radsportler erschließen, lautete die Fragestellung auf der einen Seite für Paul Hasler. Auf der anderen Seite suchten die E-Bike-Pioniere der ersten Stunde der späteren Firma Biketec nach einer Möglichkeit, ihre Produkte bekannter zu machen und gezielt zu vermarkten. Auch sie waren dem neuen Markt gedanklich weit voraus. Bereits 1993 hatten sie einen ersten E-Bike-Prototyp, den „Roten Büffel“ gefertigt. Damals hing noch eine schwere Bleibatterie unter dem Oberrohr eines roten Tourenrads. Schnell fand man sich zusammen, aber trotzdem brauchte es in der Folgezeit einen unerschütterlichen Glauben an die Idee, eine hohe Motivation und viel Überzeugungskraft, um die Vision umzusetzen. Denn wie bei vielen bahnbrechenden Ideen wurden die neuen „Elektrovelos“ anfangs von vielen nicht ernst genommen und weniger die Chancen gesehen, als vielmehr Probleme und Risiken beschworen. Der einfache Grund, warum die Macher trotz aller anfänglichen Schwierigkeiten immer hoch motiviert blieben: Alle motorunterstützten Velo-Fahrer kamen bereits nach einer kurzen Strecke mit einem breiten Lächeln im Gesicht zurück.

Neue Akku-Generation bringt den Durchbruch

Nachdem 1995 eine erste Kleinserie von Elektrovelos unter dem Namen Flyer Classic von den Pionieren produziert wurde, nahm die Geschichte des Swiss Flyers mit der Gründung der Firma Biketec im Jahr 2001 weiter Fahrt auf. Parallel wurde die Herzroute geplant und gebaut und 2003 eröffnet. Es war dabei keineswegs ein Zufall, dass das erste landschaftlich großartige Teilstück unweit der damaligen Flyer-Produktionsstätte im bernischen Kirchberg lag. Parallel mit der Eröffnung gelang Biketec der Durchbruch mit der Flyer-C-Serie, Europas erstem Elektrorad mit dem damals revolutionären Lithium-Ionen-Akku. Der trotz neuer Technologie vor allem im Gebirge noch recht eingeschränkten Reichweite begegnete man mit Akku-Wechselstationen in Hotels und an Tourismusinformationen. So konnte man in Minuten voll aufgeladen weiterfahren.

Das Flyer-Werk ist in der Region eine Attraktion. 250 Mitarbeiter arbeiten hier, weitere 50 sind in Tochtergesellschaften in Deutschland, Österreich und den Niederlanden beschäftigt.

Nachhaltige Fertigung, nachhaltiger Tourismus

„Von Anfang an stand das Thema Nachhaltigkeit bei der Herstellung und der Wahl des Standorts zusammen mit Synergien im Vordergrund“, erläutert Anja Knaus, Pressesprecherin des E-Bike-Herstellers, der heute unter dem Namen Flyer zur deutschen ZEG-Gruppe gehört. „Das ist Teil unserer DNA und unsere Erfolgsgeschichte, die sich bis heute fortsetzt.“ Mit dem Umzug in den ebenfalls an der Herzroute gelegenen Ort Huttwil erfüllten sich die Macher um den damaligen CEO Kurt Schär, der auch heute noch als Anteilseigner der Herzroute aktiv ist, einen weiteren Traum: Nachhaltigkeit und ein authentisches E-Bike-Erlebnis vor Ort sollten neben der Schweizer Qualität überzeugen. So wurde das 2009 bezogene Werk als Minergieplus-Gebäude ausgeführt inklusive einer Fotovoltaikanlage auf dem Dach, aus der auch Strom für die Kunden-Akkus bezogen wird, gesammeltes Regenwasser für die Toiletten und vielem mehr. Zudem wurde das Werk auch als Erlebniswelt geplant. Mit Führungen durch die Produktion, Testrädern und einem Verleih sowie eigens eingerichteten Wohnmobilstellplätzen am Firmengelände.

Heute eine Bilderbuch-Erfolgsgeschichte

Die anfänglichen Bedenken sind mit den Erfolgen in kürzester Zeit gewichen. Inzwischen gibt es eine lebendige Public Private Partnership zwischen den Betreibern der Herzroute, Anliegerunternehmen und der öffentlichen Hand. „Herzroute und Flyer arbeiten eng zusammen und ergänzen sich in idealer Weise“, betont Anja Knaus. „Gemeinsam schaffen wir unvergessliche Erlebnisse auf den schönsten E-Bike-Routen der Schweiz.“ Das sehen auch die zunehmend internationalen und durchaus solventen Nutzer so. Über 30.000 Nutzer pro Saison beleben die Region, spülen Geld in die Kassen und hatten in den vergangenen Jahren sicher einen unschätzbaren Wert bei der Verbreitung des positiven Images der E-Bikes und der Region. Heute wird die Erfolgsgeschichte weitergeführt: Flyer reüssiert als E-Bike-Spezialist inzwischen europaweit mit hochmodernen Cityrädern und High-End-Mountainbikes und bietet in Huttwil ein umfangreiches Angebot inklusive Fahrtechnik-, Sicherheits- und Pflegetrainings. Die Herzroute bindet mit Schleifen entlang der Strecke immer neue attraktive Regionen ein und lässt sich für Gäste, die auf mehrtägigen Touren unterwegs sind, viel einfallen, wie zum Beispiel ein „Wohnfass“ als originelle Übernachtungsgelegenheit.


Bilder: Flyer

In diesen besonderen Zeiten kommt der vielfach unterschätzten Fahrradbranche eine wichtige Funktion zu. Mit einer Vielzahl von Innovationen und einer neuen Selbstverständlichkeit hat sich das Fahrrad in Deutschland zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor und einem Motor insbesondere für den Inlandstourismus entwickelt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


(Kurz-)Urlaube mit dem Rad werden immer beliebter – besonders unter der Woche.

Der Fahrradverband VSF schätzt, dass die deutsche Fahrradwirtschaft inklusive Dienstleistungen und Tourismus für 278.000 Arbeitsplätze und 16 Milliarden Euro Gesamtumsatz steht. Rund 76 Millionen Fahrräder und E-Bikes gab es nach den Zahlen des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV) Ende 2019 in Deutschland – davon 5,4 Millionen E-Bikes. Allein im letzten Jahr kamen dabei 1,36 Millionen E-Bikes hinzu. Zum Vergleich: Laut VDA betrug der Bestand an Elektroautos Ende 2019 trotz weitreichender Förderungsprogramme insgesamt nur rund 239.000. Erfreulich ist, dass es gerade die mittelständischen Hersteller aus Deutschland und Mitteleuropa sind, die sich zu weltweiten Innovationsmotoren entwickelt haben, und dass in Deutschland 68 Prozent des Absatzes auf den Fachhandel entfallen. Die vielseitige Branche bietet über 80 verschiedene Berufe. Für Interessierte wurde vor Kurzem eine informative Plattform eingerichtet unter www.fahrrad-berufe.de.

Fahrradtourismus wird immer beliebter

Neben den Trends zu gesünderem Leben, Aktivität und Gesundheit haben vor allem die ausgereiften Produkte und viele Verleih- und Ser­viceangebote vor Ort für die steigende Beliebtheit des Fahrradtourismus gesorgt. Detaillierte Zahlen zum Fahrradtourismus bietet der ADFC mit seiner jährlichen Radreiseanalyse. Für das Jahr 2019 stellt er unter anderem fest, dass insbesondere die Zahl der Rad-Kurzreisen unter der Woche stark zugenommen hat. 5,2 Millionen Menschen waren es hier 2019 und damit 27 Prozent mehr als im Vorjahr. Dazu kommen 5,4 Millionen Personen, die Radurlaube mit drei und mehr Übernachtungen machten, 6,8 Millionen Kurzreisende am Wochenende sowie imposante 330 Millionen Tagesausflüge auf dem Rad in der Freizeit und ca. 62 Millionen Tagesausflüge im Urlaub.

Radfahren als Konjunkturprogramm

Interessant sind die Zahlen einerseits, da nach den Erkenntnissen des ADFC immer mehr Radtouristen das Rad nach dem Fahrradurlaub auch im Alltag häufiger nutzten. Zum anderen würden Radurlauber 70 bis 100 Euro pro Tag ausgeben. „Ein Konjunkturprogramm für die ganze Republik“, so die ADFC-Tourismusexpertin Louise Böhler. Bezogen auf die Region hat die Ruhr Tourismus GmbH Zahlen erhoben. Danach haben Radtouristen im letzten Jahr im Ruhrgebiet 76 Millionen Euro ausgegeben. Wer einen Tagesausflug durch das Revier mache, gebe im Durchschnitt 14,80 Euro pro Kopf aus, vorwiegend für Speisen und Getränke. Bei einer Fahrradreise mit Übernachtung seien es fast 100 Euro pro Tag, wobei die meisten dieser Gäste statistisch 5,4 Tage im Revier blieben.


Grafik: adfc

Mit den aktuellen und kommenden bevorstehenden Lockerungen haben wir Professor Stefan Gössling als Experten um einen kurzen Ausblick gebeten. Mehr gibt es dann als Schwerpunktthema in der kommende VELOPLAN-Ausgabe. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Herr Professor Gössling, in der Vergangenheit haben Sie sich im Tourismus mit wünschenswerten Veränderungen beschäftigt. Können Sie versuchen, uns einen Ausblick zu geben auf die Änderungen in der nächsten Zeit?
Die Pandemie ist eine große Chance für eine Neuorientierung. Aus Klimaschutzgründen wünsche ich mir, dass Billigfluglinien nicht unterstützt werden, Destinationen ihre Volumenwachstumsmodelle und Reisende insbesondere Fernreisen infrage stellen. Reisen ist lange Zeit immer billiger geworden, auch durch direkte und indirekte Subventionen. Es ist jetzt Zeit, diese Modelle zu hinterfragen.

Was könnte das für den Tourismus bedeuten?
Kurzfristig werden mehr Menschen in Deutschland oder im nahen Ausland Urlaub machen, weil Entfernung mit Unsicherheit und Risiken assoziiert wird. Viele Tourismusbetriebe werden hart kämpfen müssen, um nicht insolvent zu werden, da die kurzfristigen Umbrüche zu enormen Umsatzausfällen geführt haben. Eine neue Normalität wird sich also hoffentlich bald einstellen.

Was ist aus Ihrer Sicht aktuell wichtig für den Tourismus?
Das wichtigste ist jetzt, dass Planungssicherheit geschaffen wird, sowohl für die Tourismusbetriebe als auch für die Reisenden. Die Frage, unter welchen Sicherheitsvorkehrungen man Gäste entgegennimmt, ist dann fast zweitranging. Denn das lässt sich regeln, zumindest überall da, wo die Besucherdichte nicht sehr hoch ist.

Was sind Ihre ganz persönlichen Tipps für diesen Sommer?
Schön ist, dass wir die kleinen Dinge wieder schätzen können. Dass man sich wieder ein Eis kaufen kann oder im Café sitzen kann. Bei den Urlaubsreisen würde ich Familien ans Herz legen, dass Kinder überall da glücklich sind, wo sie aktiv sein können und es andere Kinder gibt. Ferienhöfe, Camping, kleinere Urlaubsorte, das können gute Alternativen sein. Für Ältere würde ich einen Urlaub auf einer deutschen Insel empfehlen. Auch da gibt es viel Platz. Die Orte sind praktisch von Natur aus auf Abstand eingerichtet und ältere Menschen können natürlich auch gut außerhalb der Hauptsaison verreisen. Für Paare attraktiv sind vielleicht Ferienhäuser in Regionen, wo man zum Beispiel gut Radfahren kann, oder Hotels in naturschönen Landschaften. Es muss nicht unbedingt eine weite Reise sein, die viel Freude macht.


Bild: www.ortlieb.com | pd-f