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Stadtmachen in der Berliner Praxis

Das Hochbahnviadukt entlang der Berliner U-Bahn-Linie 1 wird größtenteils für geparkte Autos genutzt und ist durch Verschmutzung, Abgase und Lärm belastet, was die Aufenthaltsqualität stark mindert. Das Reallabor Radbahn plante, diesen Raum im Sinne der Verkehrswende und nachhaltigen Stadtentwicklung auf einer Teilstrecke umzugestalten, um eine leisere, saubere, sichere und klimaresiliente Umgebung zu schaffen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Konkret verfolgt das Reallabor Radbahn die Idee, den städtischen Raum unter dem Viadukt in Kreuzberg partizipativ neu zu gestalten und als Testfeld zu erproben. Ursprünglich wurde das Konzept als neun Kilometer langer überdachter Radweg zwischen Oberbaumbrücke und Zoologischem Garten vorgestellt. Jetzt wird es als Prototyp auf einem Testfeld von einigen Hundert Metern in Berlin-Kreuzberg umgesetzt. Die Idee wurde erstmals 2015 vom Verein Paper Planes e.V. präsentiert und wird seit 2019 als Nationales Projekt des Städtebaus vom Bund und vom Land Berlin gefördert sowie gemeinsam mit dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg umgesetzt.
Das Hauptziel des Reallabors Radbahn war es, das Testfeld gemeinschaftlich zu planen, zu gestalten und umzusetzen. Der Fokus lag nicht nur auf dem Radfahren unter dem Viadukt, sondern auch darauf, die umliegenden Freiflächen umzunutzen und umzugestalten, um verschiedene Nutzungsmöglichkeiten für diesen öffentlichen Raum praktisch zu erproben. Dabei waren insbesondere die zahlreichen planungsrechtlichen Vorgaben, die fachübergreifende Zusammenarbeit mit der Berliner Verwaltung und weiteren städtischen Akteur*innen sowie die verschiedenen Beteiligungsformate wichtig. Dieses komplexe Zusammenspiel ergab weitreichende Einblicke ins gemeinsame Stadtmachen und zeigte zahlreiche Herausforderungen auf, die im Kontext einer nachhaltigen Verkehrs- und Stadtentwicklung entstehen können.

Das Testfeld unter dem U-Bahn-Viadukt in Berlin-Kreuzberg. Der Blick geht vom Görlitzer Bahnhof in Richtung Mariannenstraße. In der Mitte verläuft der Radweg, links und rechts befinden sich die ehemaligen Parkplätze, die nun entsiegelt, begrünt und mit Aufenthaltsmöglichkeiten ausgestattet wurden. Mobil sein und mobil bleiben – die Radinsel des Radbahn-Testfeldes bietet eine Reparaturstation.

Rechtliche Vorgaben

Als zeitlich begrenztes und finanziell klar definiertes Förderprojekt durch Bundes- und Landesmittel bot das Reallabor Radbahn die Möglichkeit, das Konzept der Radbahn in einem kleinen Teilabschnitt in Berlin-Kreuzberg als Testfeld zu realisieren. Das Projekt zu planen und genehmigen zu lassen, gestaltete sich aufgrund der Vielzahl an Beteiligten, komplexen Terminfindungen sowie strikten rechtlichen Vorgaben zäh und zeitaufwendig. Außerdem war das Projekt den verwaltungsrechtlichen Vorgaben sowie den verkehrstechnischen Richtlinien für Radwege und den formalen Anforderungen an Planungs- und Bauverfahren unterworfen. Dazu gehören die „Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen”, die „Empfehlungen für Radverkehrsanlagen”, das Berliner Mobilitätsgesetz sowie der Radverkehrsplan. Zusätzliche Vorgaben gab es aufgrund des Denkmalschutzes, der für das Viadukt der Berliner Hochbahn gilt.

Etwa drei Viertel der final formulierten Ideen der Bürger*innen flossen in die Genehmigungsplanung ein.

Komplexe Akteurslandschaften

Das Testfeld zu planen und zu bauen, erforderte eine enge Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteur*innen der Berliner Verwaltung auf Bezirks- und Landesebene sowie stadtweiten Versorgungsunternehmen und Behörden (Verkehrsbetriebe, Stadtreinigung, Denkmalschutz, Stromnetz und Polizei). Außerdem ergaben sich weitere Abstimmungsprozesse, unter anderem mit den Tierschutzbeauftragten von Bezirk und Stadt, den Berliner Wasserbetrieben und weiteren Parteien. Schließlich wurden in öffentlichen Planungsprozessen zumeist wenig gehörte Personengruppen konsultiert: Dazu gehörten zum Beispiel der Fuß e.V., der Berliner Blinden- und Sehbehindertensportverein, der Sozialhelden e.V., die Seniorenvertretung Friedrichshain-Kreuzberg, der Junge Menschen und Mobilität e.V. sowie die Kidical Mass.
Die Zusammenarbeit mit der Berliner Verwaltung auf Bezirks- und Landesebene war von Anfang an sehr intensiv. Die Fördermittel gebende Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen (SenSBW) war von Beginn an stark involviert und über regelmäßige Abstimmungsrunden und täglichen Austausch eng daran beteiligt, das Projekt zu entwickeln.
Die Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt (SenMVKU) war an verschiedenen Stellen des Projekts beteiligt: Sie verfolgte lange Zeit die Idee, eine weitere Teilstrecke zwischen Mariannenstraße und Kottbusser Tor, einschließlich der Kreuzung Skalitzer Straße/ Mariannenstraße, mit entsprechenden Zu- und Abfahrten zu realisieren. In diesem Zusammenhang wurden auch Abstimmungen bezüglich möglicher Lichtsignalanlagen und der verkehrstechnischen Einbindung der Zu- und Abfahrten auf das Testfeld vorgenommen. Weil die Kreuzung und die Zu- und Abfahrten wegfielen, konnte ein zentraler Baustein für den Radverkehr nicht umgesetzt werden. Im Jahr 2021 gab die SenMVKU zudem eine technische Machbarkeitsstudie in Auftrag, deren Ergebnisse Mitte 2023 veröffentlicht wurden. Die mögliche Umsetzung der Studienergebnisse bleibt jedoch bisher offen.
Als direkter Projektpartner erhielt der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg (BA FK) ein jährliches Budget zur Finanzierung einer Teilzeitstelle, um das Projekt seitens des Bezirksamtes personell zu unterstützen. Ursprünglich war geplant, dass das BA FK die Verkehrsplanung übernehmen würde, jedoch konnte dies nicht adäquat umgesetzt werden. Stattdessen wurde ein externes Planungsbüro beauftragt, was den Start der Verkehrsplanung erheblich verzögerte. Im Jahr 2023 wurden ein neuer Projektleiter beim Bezirk und ein externer Projektsteuerer eingebunden. Unabhängig von den verkehrsplanerischen Abstimmungen gab es Klärungsbedarf zu verschiedenen Themen, darunter Übernahme- und Rückbaupflichten sowie Genehmigungen für die Verkehrsführung und zahlreiche Sondergenehmigungen für Veranstaltungen unter dem Viadukt.

Ursprünglich wurde das Konzept als neun Kilometer langer überdachter Radweg zwischen Oberbaumbrücke und Zoologischem Garten vorgestellt. Jetzt wird es als Prototyp auf einem Testfeld von einigen Hundert Metern in Berlin-Kreuzberg umgesetzt.

Streckenplan der sogenannten Radinsel, die als Aufenthaltsfläche und Service-Einrichtung in der Mitte des Testfeldes für die Bedürfnisse von Radfahrenden konzipiert wurde.

Partizipativer Planungsprozess

Die Neugestaltung der Fläche unter dem Viadukt basiert sowohl auf den oben beschriebenen planerischen Rahmenbedingungen und komplexen Akteurslandschaften als auch ganz wesentlich auf den Ergebnissen verschiedener Beteiligungsverfahren. Die bestehenden finanziellen, regulatorischen und administrativen Restriktionen bestimmten einerseits maßgeblich den Beteiligungsgegenstand und -spielraum und waren andererseits fortwährend offenzulegen, um realistische, glaubhafte und verbindliche Beteiligungsprozesse zu gewährleisten.
In insgesamt vier verschiedenen Beteiligungsformaten wurden Bür-gerinnen sowie diverse Interessenvertretungen und Stakeholder in die Planungen einbezogen: ein mehrstufiges Bürgerbeteiligungsverfahren zur Gestaltung der Freiflächen, ein Radbahn-Gespräch zur Barrierefreiheit des Testfeldes sowie zwei Stakeholder-Workshops zu grün-blauen Infrastrukturen sowie zu Erfahrungen des gemeinsamen Stadtmachens. Diese Formate entwickelten sich organisch und bauten inhaltlich aufeinander auf. Das wurde durch die enge Zusammenarbeit zwischen eigenen Planerinnen und dem Team für Öffentlichkeitsarbeit und Partizipation sowie externen Planungsteams ermöglicht.
Die Empfehlungen aus dem Bürgerbeteiligungsverfahren wurden als finale Vorschläge an das Freianlagen-Planungsteam übergeben. Sie dienten als Planungsgrundlage dafür, das Testfeld auszugestalten. Das Planungsteam griff die Idee der „Inseln”, verbunden durch großzügige Grünflächen, auf und entwickelte sie weiter. Etwa drei Viertel der final formulierten Ideen der Bürgerinnen fanden Einzug in die Genehmigungsplanungen. Dies erforderte neben der engen Zusammenarbeit aller Akteurinnen eine Sensibilität und Ernsthaftigkeit des Planungsteams gegenüber Beteiligungsprozessen und -ergebnissen.

Einblick in den Stakeholder-Workshop zum Thema „Lust und Frust des gemeinsamen Stadtmachens“. Im November 2023 diskutierten verschiedene Akteur*innen der Berliner Stadtentwicklung über Perspektiven, Erfahrungen und Erfolgsfaktoren urbaner Transformation.

Lust und Frust des gemeinsamen Stadtmachens

Mit dem Status eines Experimentierlabors und der direkten Partnerschaft mit dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg war die Erwartung verbunden, personelle Unterstützung durch einen direkten Ansprechpartner zu haben, langwierige hausinterne Prozesse zu beschleunigen und schneller von der Planung in die Umsetzung überzugehen. Diese Erwartungen erwiesen sich als zu optimistisch. Ursprünglich war die Testfeld-Öffnung für den Herbst 2021 geplant, doch aufgrund verschiedener Verzögerungen wurde sie mehrfach verschoben. Langwierige Abstimmungsprozesse zu Zuständigkeiten und der Kostenverteilung trugen zu mehrfachen Umplanungen bei.Schließlich begannen die Bauarbeiten für das Testfeld im November 2023, und die Fertigstellung erfolgte im April 2024. Das entspricht einer Verschiebung um knapp zwei Jahre im Vergleich zur ursprünglichen Planung, die nur teilweise durch eine Laufzeitverlängerung um neun Monate aufgefangen werden konnte.
Die Umgestaltung der Kreuzung Mariannenstraße/Skalitzer Straße sollte ursprünglich allen Verkehrsteil-nehmerinnen ein sicheres Überqueren ermöglichen und gleichzeitig einen reibungslosen Zugang zur Radbahn ermöglichen. Dies sollte als Prototyp dafür dienen, wie sich ein mittig verlaufender Radweg gestalten lässt. Gleichzeitig sollte die Kreuzung das Testfeld in das geplante Radinfrastruktur-Netz Berlins integrieren, da die Mariannenstraße bereits eine Fahrradstraße ist. Diesen Plan umzusetzen, gestaltete sich jedoch äußerst komplex und ressourcenintensiv. Trotz monatelanger Bemühungen und Verhandlungen mit verschiedenen Projektbeteiligten liegt seit Ende des vergangenen Jahres die Verantwortung für Planung, Bau und Finanzierung bei der SenMVKU in Zusammenarbeit mit dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Anfang 2024 hielten die neuen Verantwortlichen fest, dass es aufgrund fehlender Mittel vorerst nicht möglich wäre, die Planung der einzubindenden Kreuzung fortzuführen. Die Zusammenarbeit mit der Berliner Verwaltung verlief in vielen Fällen zielgerichtet und erfolgreich. In einigen Situationen waren jedoch aufgrund unterschiedlicher struktureller Logiken und inhaltlicher Differenzen deutliche Grenzen spürbar – wie beispielsweise bei der Umgestaltung der Kreuzung. Die Vielzahl und Komplexität der Abstimmungs- und Genehmigungsprozesse, personelle Engpässe und unterschiedliche Vorstellungen führten zu zeitlichen Verzögerungen und zahlreichen Kompromissen bei der Umsetzung einzelner Elemente des Testfeldes, teilweise sogar zu ihrem Wegfall. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Reflexionen vor allem individuelle Erfahrungen und Perspektiven des Reallabors Radbahn widerspiegeln. Die Ergebnisse eines zweiten Stakeholder-Workshops zum Thema „Gemeinsames Stadtmachen“ stützen jedoch diese Einschätzungen: Auch dort wurden einige zentrale Punkte wie Bürokratieabbau und eine gute finanzielle Ausstattung der Bezirke als entscheidende Erfolgsfaktoren einer gelingenden urbanen Transformation genannt. Andere Aspekte zielten darauf ab, die langfristige Finanzierung und Weiterführung von einmal projektfinanzierten Neuerungen sicherzustellen sowie Prozesse und administrative Strukturen zu optimieren. Diese Ergebnisse sind insgesamt bemerkenswert, da sie von einer heterogenen Gruppe von Stadtmacherinnen inklusive Verwaltungshandelnden gemeinsam diskutiert und bewertet wurden. Sie sind daher keine Einzelmeinungen, sondern Ausdruck gemeinschaftlicher Erfahrungen im Kontext städtischer Umgestaltungsprozesse und verdeutlichen, dass die Umsetzung integrierter Projekte im Rahmen einer nachhaltigen Verkehrs- und Stadtentwicklung ein fortlaufender Lernprozess ist. Dieser erfordert es, dass sich die Projekte an die Strukturen der Verwaltung annähern und dass die Verwaltung offen ist für die Visionen und Motivationen einzelner Umsetzungsprojekte.

Dr. Maximilian Hoor ist Geschäftsführer des Reallabor Radbahn gUG und promovierte an der TU Berlin zu Mobilitätskulturen und dem städtischen Radfahren. Beim Projekt Reallabor Radbahn Berlin ist er für die Partizipation, Evaluation und die wissenschaftliche Begleitung des Projektes verantwortlich.

Dr. Silke Domasch koordiniert die übergreifenden Studien des Reallabors Radbahn Berlin und ermöglicht als Expertin für Beteiligung vielfältige Diskussionen und Dialoge mit allen Beteiligten, vor allem den Bürger*innen, dem Beirat und anderen Stakeholdern.


Bilder: Reallabor Radbahn, Illustration: Lena Kunstmann, Plan: fabulism – Reallabor Radbahn