Bikepacking extrem – Mein Jahr als digitaler Lastenradnomade

von Gunnar Fehlau

Workpacking geht als Wortschöpfung auf Work and Travel und Bikepacking zurück. Velopreneur Gunnar Fehlau hat neben dem passenden Begriff einen ganz eigenen Lebensstil auf dem Lastenrad erschaffen. Im gleichnamigen Buch erzählt er die Geschichte eines einmaligen Arbeits- und Lebensjahres. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Am 2. Januar 2023 hat Gunnar Fehlau seinen gesamten Hausstand auf ein E-Cargobike verladen und damit ein besonderes Projekt begonnen. Für knapp ein Jahr war er auf dem Fahrrad quer durch Deutschland und seine Nachbarländer unterwegs. Die Tour war allerdings nicht als Sabbatjahr geplant. Stattdessen hat Fehlau den Begriff des Mobile Office wörtlich genommen.
Auf den ersten Blick ist das Buch Workpacking eine kurzweilige Lektüre, in der der Autor in einem bildreichen Tagebuchformat anekdotisch von seinen Erlebnissen und Erkenntnissen in den drei As – Alltag, Arbeit, Abenteuer – berichtet. Schon dabei erhält man tiefe Einblicke in das Leben eines Abenteurers und Unternehmers und viele hilfreiche Life-, Bike- und Outdoor-Hacks.
Auf den zweiten Blick dienen die Erfahrungen und erfahrenen Kilometer als Plattform, auf welcher der Autor eine kritische Bestandsaufnahme vornimmt zum digitalen Fortschritt in Deutschland, der Infrastruktur für Radfahrer und Camper und der Akzeptanz von neuen Formen des Arbeitens.
Fehlau ist nicht erst seitdem ihm der Titel „Fahrradpersönlichkeit des Jahres 2023“ von der BikeBild verliehen wurde, in der Fahrradszene gut bekannt und vernetzt. Die Arbeit in der Fahrradbranche prägt deshalb die mehr als 12.000 Kilometer lange Route, die er gefahren ist, und viele kleine Erlebnisse und große Events, die er mit der Strecke verband.

Gunnar Fehlau nennt sich selbst einen Velopreneur. Mit drei wirtschaftlichen Standbeinen in der Fahrradbranche und um sie herum hat er auch jedes Recht dazu. Fehlau steckt hinter dem Pressedienst Fahrrad, der Content-Agentur Velonauten und dem Bootcamp.Bike, das branchenfremde Fachkräfte mit Fachwissen fit für die Fahrradwirtschaft macht.


Workpacking. Bikepacking extrem – Mein Jahr als digitaler Lastenradnomade | von Gunnar Fehlau | Paul Pietsch Verlage | 1. Auflage 2024 | 256 Seiten, 300 Bilder| ISBN: 978-3-613-50967-2 | 29,90 Euro


Bilder: www.pd-f.de

Miteinander den Kulturkampf beenden

von Heinrich Strößenreuther, Michael Bukowski und Justus Hagel

Über Verkehr reden zu können, ohne dass es kracht, so lässt sich das Ziel des Buchs „Die Verkehrswesen“ zusammenfassen. Strößenreuther, Bukowski und Hagel plädieren für einen pragmatischen Blick auf die notwendigen Veränderungen im Verkehrssystem, der es ermöglichen soll, miteinander im Gespräch zu bleiben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Rolf und Wendy heißen die fiktiven Hauptdarsteller, die den Leserinnen von „Die Verkehrswesen“ immer wieder begegnen. (Verkehrs-)Wendy und der Autofan Rolf verkörpern Gegenpole eines gesellschaftlichen Konflikts vom Auto gegen den Rest. Den beiden fiktiven Menschen und natürlich auch den Leserinnen wollen die Autoren einen pragmatischen Blick vermitteln, indem sie die Diskussion über die Verkehrswende versachlichen und gleichzeitig analysieren, wieso der Diskurs an vielen Stellen so kämpferisch ausgetragen wird. „Die Verkehrswesen“ analysiert die Vorteile und Grenzen einzelner Verkehrsmittel sowie die Ursachen von gegenseitigen Ärgernissen und Missverständnissen. Das Buch soll Mut machen, sich weiterhin im Diskurs miteinander an einer gemeinsamen Lösung zu beteiligen. Für die Autoren ist klar, dass es besser ist, stetig an kleinen Stellschrauben zu drehen, als sich in große zu verbeißen.
Die vielen Expertinnen-Statements, die die Autoren von „Die Verkehrswesen“ gesammelt haben, lassen sich in jedem Fall als Indiz dafür werten, dass sie diesen „Kulturkampf“ nicht als einzige leid sind. Neben dem ADFC-Bundesvorsitzenden Frank Masurat, Zukunft-Fahrrad-Geschäftsführer Wasilis von Rauch oder der VCD-Bundesvorsitzenden Kerstin Herrmann kommen Vertreter von einigen Kommunen und Verbänden aus der Verkehrs-, Auto- und Bahnsphäre in dem Buch zu Wort. Gemeinsam mit diesen zeigen Strößenreuther, Bukowski und Hagel blinde Flecken auf. Gleichzeitig reden sie Klartext, bieten Empathie und nicht zuletzt Unterhaltung für die Leserinnen.

Heinrich Strößenreuther ist laut der Zeitung taz „Deutschlands erfolgreichster Verkehrslobbyist“. Der CDU-Politiker ist zudem versierter Bus- und Bahn-Manager und hat unter anderem Changing Cities, GermanZero und die KlimaUnion mitgegründet. Strößenreuther hat neben dem Berliner Mobilitätsgesetz zu 50 Radentscheiden und 20.000 Bike+Ride-Stellplätzen beigetragen.

Michael Bukowski ist als freier Texter, Autor und Ghostwriter auf gesellschaftliche Großkonflikte spezialisiert. Er ist seit 2018 Mitglied des Ensembles vollehalle.de und als Speaker unterwegs.

Justus Hagel trat 2016 schon in jungen Jahren in die CDU ein. Er ist nach eigenen Angaben autosozialisiert aufgewachsen. Der angehende Jurist ist Vorsitzender des Landesverbandes Berlin der KlimaUnion.


Die Verkehrswesen. Miteinander den Kulturkampf beenden | von Heinrich Strößenreuther, Michael Bukowski und Justus Hagel | Tremonia Media |1. Auflage 2023 | ca. 140 Seiten (farbig), Softcover | ISBN: 978-3-00-077274-0 | 9,90 Euro


    Die Eurobike ist in der Fahrradwelt als führende Leitmesse eine feste Größe. Dennoch haben auch andere raumsparende und umweltfreundliche Verkehrsmittel in der jüngeren Vergangenheit mitunter erhebliche Entwicklungen gezeigt. Vor allem im gewerblichen Segment überschneiden sich die Zielgruppen der verschiedenen Fahrzeugarten stark. Deshalb hebt die Eurobike die Kategorie Ecomobility in diesem Jahr aus der Nische ins Rampenlicht. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


    Die Fortbewegung unter dem Schirmbegriff Ecomobility reicht vom Zufußgehen bis ans Auto heran. Gemeinsam haben die verschiedenen Ecomobile, dass sie die Mobilitäts- und Transportbedürfnisse ihrer Nutzerinnen und Nutzer umwelt- und ressourcenschonend erfüllen können und dabei so wenig Raum wie möglich einnehmen. Unternehmen verschiedener Branchen produzieren die Fahrzeuge und Mobilitätshilfen, zu denen Lastenanhänger, elektrische Leichtfahrzeuge, Senioren-Scooter, Kinderroller, Einräder und Rollatoren zählen.
    In Frankfurt kann sich das internationale Messepublikum von 3. bis 7. Juli aus erster Hand über innovative Produktentwicklungen informieren und entdecken, welch vielseitigen Nutzen die Feinmobilität von Individual- bis Güterfahrzeug mit sich bringt. Die Eurobike wird somit durch die Erweiterung auf Ecomobile insbesondere für gewerbliche Zielgruppen wie Hausmeister und Gebäudedienstleister, Gartenbau- und Handwerksbetriebe sowie Pflegekräfte und Flottenmanager noch relevanter als bisher. Stefan Reisinger, Geschäftsführer der fairnamic GmbH, erklärt: „Ecomobility ist ein wichtiger Baustein für eine nachhaltige Zukunft, und die Fahrradbranche mit ihrer hohen Innovationskraft ist ein elementarer Bestandteil davon. Die Eurobike ist die logische gemeinsame Plattform für Fahrrad, E-Bike und Ecomobile, und gemeinsam können wir zur Benchmark für Innovation, Nachhaltigkeit und Lifestyle im Bereich zukünftige Mobilität werden.“

    Ecomobility beschreibt ganz unterschiedliche Fahrzeuge in einem breiten Spektrum.

    Ecomobility auf der Eurobike erleben

    Die Vielfalt der Ecomobile lässt sich auf der Eurobike, allen voran in Frankfurts größter Messehalle Halle 8, erleben. Dort steht die neue Ecomobility Experience Gallery unter dem Motto „Mit Gerät und Material zur Arbeit“. In der Sonderausstellung können die Besucherinnen und Besucher sich dazu informieren, wie vielfältig die gewerblichen Einsatzmöglichkeiten der Ecomobile sind. Kurze Infoveranstaltungen wie die Ecomobility Talks geben im Rahmen der Ausstellung weiteren Input. Die Experience Gallery zeigt Fahrzeuge von der elektrischen Schubkarre über den Elektro-Handwagen und Lastenräder bis hin zu elektrischen Mini-Trucks. Die Ecomobility Tours helfen dabei, das Angebot an Fahrzeugen, aber auch Dienstleistungen, in einem geführten Rundgang zu erkunden.
    Der Stadt- und Umweltplaner Konrad Otto-Zimmermann, Partner der Eurobike-Sonderschau „Ecomobility Experience Gallery“, erklärt: „Ecomobility – das ist die smarte Wahl des kleinsten, leichtesten, raum- und energiesparendsten, umweltschonendsten und kostengünstigsten Fahrzeugs für die hauptsächlichen Nutzungszwecke. Bei den Ecomobility Tours können Gewerbetreibende die Welt der feinen Nutzfahrzeuge kennenlernen und dann auf dem Parcours im Wortsinne er-fahren.“
    Auch im Vortragsprogramm der Eurobike findet die Ecomobility am Donnerstag, den 4. Juli, ihren Platz. Bei den Ecomobility Talks geht es in vier Veranstaltungen um aktiv und elektrisch angetriebene, raumsparende und umweltschonende Nutzfahrzeuge. Das Konferenzformat soll eine Plattform bieten, auf der Ecomobility-Nutzer und -Anbieter sich austauschen können. Auch die Branchenstruktur, Produktentwicklung, Fahrzeugtechnik und Vertriebsfragen stehen auf der Pink Stage im Mittelpunkt.

    Feinmobilität gegen Autoabhängigkeit

    von Konrad Otto-Zimmermann

    Das neue Eurobike-Thema Ecomobility fußt auf dem Konzept der Feinmobilität (s.a. Interview in Veloplan 4/22). Nachfolgend erklärt der Stadt- und Umweltplaner Konrad Otto-Zimmermann die dahinter stehende Idee.

    Die feinmobile Räderwelt bietet bereits heute eine nahezu stufenlose Palette von Fahrzeugen für den privaten und gewerblichen Bedarf. Vom Bollerwagen, der Spielsachen, einen Klappstuhl für das Picknick oder auf dem Rückweg ein müde gespieltes Kind transportiert, bis hin zu vierrädrigen Cargobikes für Zuladungen bis zu 280 kg und Ladefläche für eine Europalette.
    Feinmobilität ist nicht nur ein Buzzword wie Mikromobilität, sondern beschreibt Mobilität zu Fuß und mit Bewegungsmitteln im Spektrum „zwischen Schuh und Auto“. Diese saloppe Definition wird begleitet von einer wissenschaftlichen Definition, die ihren Niederschlag in den sogenannten G-Klassen findet. Die Klassifikation von Fahrzeugen teilt die Räderwelt in sieben Größenklassen von XXS bis XXL ein, von denen die S-Klassen (XXS, XS und S) die Feinmobilität konstituieren.
    Aber warum feiner fahren? Die Vorzüge der Feinmobile gegenüber heute üblichen mittleren und großen Fahrzeugen sind bekannt, wie Energie- und damit Kosteneinsparung; Reduktion der Treibhausgas-Emissionen und der Luftschadstoffemissionen; geringeres Gefährdungspotenzial, geringere Flächeninanspruchnahme im ruhenden wie fließenden Verkehr mit der Folge einer höheren Kapazität eines Streckenabschnitts.
    Warum spielt Feinmobilität dann – mit Ausnahme des etablierten Fahrrades – keine größere Rolle im Verkehrsgeschehen, obwohl es so viele Fahrzeuge gibt, mit denen wir ohne Auto viel umweltfreundlicher und kostensparender mobil sein können? Die Antwort ist: Ein großer Teil der Fahrfahrzeuge existiert zwar, ist aber praktisch nicht verfügbar.
    Feine Bewegungsmittel sind über mindestens zwölf Industrie- und Handelsbranchen verteilt; in alphabetischer Reihenfolge: Automobil, Baby-/Kinderausstattung, Elektrisches Leichtfahrzeug, Fahrrad, Fahrzeugbau, Koffer und Taschen, Mikromobil, Motorrad, Sanitätsartikel, Spielwaren, Sportartikel, Wagen und Karren. Auf ebenso viele Messen müsste man gehen, um einen Überblick über das Produktangebot zu gewinnen.
    In einigen Branchen stellen Feinmobile zudem nur ein Randsortiment beziehungsweise Nischenprodukte dar oder sie werden Kunden vorenthalten. So sind durchaus leistungsfähige Verkehrsmittel bei Eisenwaren oder in der Intralogistik versteckt. Oder Autohäuser bekannter Automobilmarken halten Minicars dieser Marken aus ihren Ausstellungsräumen fern. Es gibt Hersteller, die ihr Bewegungsmittel bewusst nicht in der Mobilität, sondern bei Lifestyle-Produkten verortet sehen.
    Ein Lichtblick ist nun jedoch die Eurobike, die unter dem Begriff Ecomobility als weltgrößte Messe der Fahrradbranche in diesem Jahr erstmals das Spektrum an Fahrzeugen der Feinmobilität für einen ausgewählten Anwendungsbereich präsentiert: Nutzfahrzeuge für Hausmeister, Gebäudedienstleister, Gartenbau- und andere Handwerksbetriebe sowie Reparatur- und Wartungsdienste.


    Bilder: Eurobike – Jean-Luc Valentin, Eurobike – Jens Braune del Angel

    Die Mitarbeiter in den Verwaltungen gestalten die Straßen der Zukunft. Damit die Planer ihren Job überhaupt machen können, müssen die Abläufe neu strukturiert werden. Ein neues Difu-Projekt zeigt Probleme, Potenziale und Lösungen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


    Manchmal braucht es wenig, um Radfahren sicherer zu machen. In Frankfurt waren es neue Markierungen, eine Handvoll Poller, ein Sicherheitsstreifen und ein paar Trennelemente, die rund um die Messe die Radfahrenden vor dem Autoverkehr und Dooring-Unfällen schützen. Der Umbau brauchte gerade mal sechs Monate. Das Radfahrbüro hat ihn geplant und das Amt für Straßenbau und Erschließung alles umgesetzt.
    „Bei den bestandsnahen Maßnahmen wie Modalfilter oder Markierungen sind wir sehr schnell“, sagt Stefan Lüdecke, Frankfurts Radverkehrskoordinator. Das liegt an der Struktur in der Verwaltung. Das Radfahrbüro gehört zum Straßenverkehrsamt. Deshalb können seine Kolleginnen und Kollegen die Radinfrastruktur planen und auch selbst anordnen. Seit Januar leitet Lüdecke zudem die neue Stabsstelle Radverkehr in Frankfurt, inklusive Verfügung des Oberbürgermeisters. Damit wird der Ausbau des Radverkehrs in Frankfurt zur Chefsache.
    Von so viel Rückenwind für die Verkehrswende träumen viele Radverkehrsplanerinnen. In der Regel wandern ihre Pläne über etliche Schreibtische in unterschiedlichen Ämtern, was Zeit kostet und zu Reibungsverlusten führt. Viele Kommunen wollen deshalb ihre Abläufe umstrukturieren, um den Ausbau des Radverkehrs zu beschleunigen. Hilfestellung bekommen sie dabei vom Deutschen Institut für Urbanistik. Die Mobilitätsexpertinnen aus Berlin haben in den vergangenen drei Jahren mit Kommunen und Kommunikationsexpertinnen bundesweit dazu ein Projekt durchgeführt. Es trägt den sperrigen Titel „Beseitigung von Umsetzungshemmnissen in der kommunalen Radverkehrsplanung – soziotechnische Innovationen und kommunale Steuerungsmöglichkeiten“ (KoRa). In über drei Dutzend Interviews spürten die Mobilitätsexpertinnen Stolpersteine in den Kommunen auf, identifizierten „Good Practices“ und entwickelten in verschiedenen Workshops mit den Mitarbeiter*innen der Kommunen unter anderem passgenaue Organisationsformen für ihre Planungsprozesse.
    Für viele Verwaltungen ist das ein Umbruch in der Arbeitsweise. „Traditionell sind Verwaltungen eher hierarchisch organisiert“, sagt Martina Hertel, Mobilitätsexpertin am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu). Mobilität sei aber eine Querschnittsaufgabe, für die Experten verschiedener Fachbereiche und Hierarchieebenen zusammenarbeiten müssen. Diese Zusammenarbeit zu organisieren und zu strukturieren, sei deshalb mancherorts eine Herkulesaufgabe.
    Für den Wandel lohnt sich bei einigen Aspekten der Blick in die freie Wirtschaft. „Auf vielen Ebenen funktionieren Verwaltungen wie große Unternehmen etwa beim agilen Management“, sagt Jessica Le Bris vom Beratungsunternehmen „Experience“, die mit ihren Kolleginnen und Kollegen viele der Projekt-Workshops durchgeführt hat.
    Der Bau eines Radwegs sei auf verschiedenen Ebenen mit der Herstellung eines Produkts vergleichbar. Um ein neues Produkt zu entwickeln, arbeiten in Unternehmen Experten aus verschiedenen Fachbereichen in wechselnden Teams zusammen – etwa aus der Entwicklung, der Fertigung, der Marktforschung, dem Produktdesign, der Buchhaltung oder dem Verkauf. Dabei folgen alle Beteiligten einem genau strukturierten Prozess und arbeiten klar umrissene Aufgabenpakete ab. Der aktuelle Stand des Projekts und die anstehenden Schritte sind für alle jederzeit digital einsehbar. Jedes Projekt wird von einem Projektmanager betreut.
    „Ähnliche Strukturen benötigen die Verwaltungen“, sagt Jessica Le Bris. Die Beteiligten müssen Arbeitsprozesse umstrukturieren und eine neue Teamkultur entwickeln. Momentan entstehen in den Kommunen an vielen Stellen Reibungsverluste, weil etwa Checklisten für die einzelnen Planungsschritte fehlen oder die Fachbereiche nicht ausreichend eingebunden werden. „Immer wieder werden weit fortgeschrittene Radverkehrsplanungen gestoppt, weil der Denkmalschutz, der Naturschutz oder das Amt für Inneres ein Veto einlegen“, sagt Le Bris. Wenn mit Planungsbeginn alle beteiligten Personen einbezogen und integriert werden, kann das verhindert werden.

    „Ein gutes Projektmanagement hilft dabei, einen Zuständigkeitsatlas zu etablieren und das Netzwerken der Mitarbeitenden zu fördern“

    Jessica Le Bris, Beratungsunternehmen Experience

    Alle Experten an Bord?

    In Vorreiterstädten wie Hamburg ist das seit Jahren üblich. Als Kirsten Pfaue dort 2015 Radverkehrskoordinatorin wurde, hat sie das Bündnis für den Radverkehr initiiert. Alle, die in der Hansestadt für den Bau von Radinfrastruktur wichtig sind, machen mit: neben verschiedenen Senatsbehörden etwa auch die Bezirksämter, der Landesbetrieb für Straßen, Brücken und Gewässer, die Hamburger Hafenverwaltung und die HafenCity Hamburg GmbH. Mit ihnen hat Kirsten Pfaue damals einen ausführlichen Maßnahmenkatalog erarbeitet, um das Radnetz und die nötige Infrastruktur aufzubauen. In den vergangenen Jahren ist das Bündnis von 19 auf 28 Projektpartner angewachsen.
    Das Bündnis schafft die notwendige Struktur, indem es die Fachgebiete mit den jeweiligen Ansprechpartnern definiert. Das ist hilfreich, wenn im Zuge von Politikwechseln die Zuständigkeit umstrukturiert wird. „Ein gutes Projektmanagement hilft dabei, einen Zuständigkeitsatlas zu etablieren und das Netzwerken der Mitarbeitenden zu fördern“, sagt Le Bris.

    Effizienz steigern, Ingenieurinnen entlasten Ein Zuständigkeitsatlas kann dabei helfen, die anfallenden Aufgaben bei der Radverkehrsplanung fachspezifisch zu verteilen. Der Bedarf ist da. Eine Analyse der Denkfabrik Agora hat 2023 gezeigt, dass Radver-kehrsplanerinnen gerade mal 25 bis 45 Prozent ihrer Arbeitszeit mit dem Planen von Radinfrastruktur verbringen. In der übrigen Zeit beantworten sie Presseanfragen, Anfragen aus der Politik und der Bürgerschaft oder sie organisieren Bürgerbeteiligungen. „In vielen Kommunen ist es selbstverständlich, dass der Radverkehrsplaner die Räume für Bürgerbeteiligungsverfahren mietet und falls nötig auch das Catering organisiert“, sagt Martina Hertel. In Zeiten von Fachkräftemangel verschwenden die Kommunen auf diese Weise wertvolle Ressourcen. Dabei existieren bereits Lösungen.
    „In Heidelberg beispielsweise managt ein Team die Öffentlichkeitsarbeit und organisiert die Bürgerbeteiligungsverfahren für die gesamte Verwaltung“, sagt die Difu-Expertin. Die Teammitglieder beraten die Planerinnen, übernehmen die Kommunikation, die organisatorischen Aufgaben und moderieren gegebenenfalls die Veranstaltung. „Für den Inhalt sind weiterhin die Planer zuständig, alles andere erledigen die Kommunikationsexperten“,sagt Martina Hertel. Das sichert die Qualität der Bürgerbeteiligungsverfahren und verschafft den Ingenieurinnen mehr Zeit zum Planen.

    Farbe, Trennelement und Plastikpoller schützen die Radfahrenden in der Osloer Straße nahe der Messe vor dem Autoverkehr.

    Stockt der Ausbau, hakt der BWLer nach

    Die Hansestadt Hamburg ist bereits eine Stufe weiter. Dort werden die verschiedenen Radverkehrsprojekte per Controlling optimiert. „Betriebswissenschaftler kontrollieren, ob die verschiedenen Projekte umgesetzt und die Zeitpläne eingehalten werden“, sagt Martina Hertel. Verspäte sich ein Ausbauschritt, haken die BWLer nach, informieren die Beteiligten und bringen den Prozess wieder ans Laufen, sagt sie. Die Voraussetzung für diese effiziente Vorgehensweise sei eine gemeinsame Datenbasis und damit die Digitalisierung der Kommune.

    „Die Radverkehrsplaner brauchen digital und organisatorisch geeignete Strukturen, um schnell ins Handeln zu kommen“

    Martina Hertel, Mobilitätsexpertin am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu)

    Digitalisierung wird verzögert

    In vielen Verwaltungen ist die Digitalisierung bislang nicht angekommen. Im Gegenteil, vielerorts werden laut Martina Hertel weiterhin PDFs oder Excel-Tabellen in Aktenmappen weitergereicht. „Die Zahlen sind mit dem Ausdruck schon fast wieder veraltet“, sagt sie. In Zeiten von klammen Kassen scheitert die Umstellung jedoch häufig am Geld, am Personal und am Wissen. Manchmal fehle aber auch die grundlegende Erkenntnis, dass die Digitalisierung notwendig sei für eine moderne Verwaltung.
    Damit die Verkehrswende in den Kommunen gelingt, müssen die Vorhaben und Maßnahmen deutlich schneller umgesetzt werden als bisher. „Die Radverkehrsplaner brauchen digital und organisatorisch geeignete Strukturen, um schnell ins Handeln zu kommen“, sagt Martina Hertel. Das ist auch relevant, um die Bevölkerung in die Verkehrswende besser einzubinden und Konflikte beim Umbau gegebenenfalls schnell abwenden zu können. Das zeigt ein Beispiel aus Frankfurt.

    Oeder Weg in Frankfurt: Weniger Autos, mehr Fahrräder und Fußgänger: Die Umwandlung des Oeder Wegs in Frankfurt zu einer fahrradfreundlichen Straße hat positive Auswirkungen auf die Verkehrsbelastung.

    Zunächst sind viele Autofahrer auf Seitenstraßen ausgewichen. Um das zu ändern, wurden sogenannte Diagonalfilter installiert, die nur Fahrradfahrende und Fußgänger*innen durchlassen.

    Konflikte schnell lösen können

    Dort wurde im Jahr 2021 die Nebenstraße Oeder Weg temporär in eine 1,3 Kilometer lange Fahrradstraße umgebaut. Vor dem Umbau waren dort 9.000 Autos unterwegs. „Mit dem Umbau hat sich die Zahl der Pkw halbiert und die Zahl der Radfahrenden verdoppelt“, sagt Radverkehrskoordinator Stefan Lüdecke. Allerdings sind die Autofahrerinnen nicht auf die Hauptstraßen ausgewichen, sondern in die angrenzenden Nebenstraßen. Die Anwohnerinnen beschwerten sich über Lärm und Verkehr bei den Radverkehrsplanerin-nen. Damit der Konflikt nicht weiter eskaliert, diskutierten Lüdecke und sein Team zeitnah mit dem Ortsbeirat und den Bürgerinnen. „Wir haben angeboten, mit Modalfiltern ein Blockkonzept zu testen“, sagt Lüdecke. Nach einer weiteren Anhörung und der Abstimmung mit der Brandschutzbehörde wurden rund vier Monate später Poller und Schilder installiert. Laut den Wissenschaftlern der Frankfurt University of Applied Sciences, die den Umbau begleiteten, hat sich der Autoverkehr seitdem auf die Hauptstraßen verlagert. Im gesamten Quartier sind nun deutlich weniger Fahrzeuge unterwegs als zuvor und die Zahl der Unfälle hat sich ebenfalls halbiert.
    In Frankfurt wurden die wichtigsten Voraussetzungen für den schnellen Ausbau des Radverkehrs in der Verwaltung bereits geschaffen. Aber weiterhin werden die Prozesse stetig angepasst und verbessert. „Der Ausbau des Radverkehrs ist eine Querschnittsaufgabe“, sagt Stefan Lüdecke. Nicht jede Kommune brauche einen Radverkehrskoordinator, aber sie brauche einen Verantwortlichen, einen Kümmerer, der dafür sorgt, dass der Ausbau des Radverkehrs in allen Ämtern gelebt wird. „Die Verkehrswende, der Umbau Frankfurts zur Fahrradstadt, ist politisch beschlossen“, sagt Lüdecke. Demnach müssen alle Ämter das politische Ziel vorantreiben.
    Frankfurt gehört zu einem der drei Best-Practice-Beispiele, die das Difu auf seiner KoRa-Webseite in einem Kurzvideo vorstellt. Dort können interessierte Kommunen zudem anhand eines Schnelltests den Ist-Zustand der Radverkehrsplanung in
    ihrer Kommune reflektieren und bewerten. Fest steht: Jede Kommune ist anders und muss eine Struktur entwickeln, die zu ihren Bedürfnissen passt. Allerdings gibt es Leitlinien, die die Kommunen dabei unterstützen, ihre Struktur an die neuen Herausforderungen anzupassen. Dazu wird das Difu in den kommenden Monaten einen Leitfaden veröffentlichen.


    Bilder: Mobilitätsdezernat der Stadt Frankfurt

    Von den etwa 39 Millionen Radfahrenden in Deutschland sind 230.000 Mitglied im ADFC. Der Fahrradclub ist damit die größte Interessenvertretung der Radfahrenden hierzulande. Seit Kurzem hat nun Dr. Caroline Lodemann als Geschäftsführerin die Leitung des Bundesverbands übernommen. Im Interview erklärt sie, wie der ADFC mit „Sachlichkeit und Expertise“ den Ausbau des Radverkehrs künftig weiter vorantreiben und verkrustete Strukturen aufbrechen soll. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


    Sie waren bisher vor allem im Umfeld von Bildung und Forschung aktiv. Was hat Sie nun an der neuen Aufgabe beim ADFC gereizt?
    Wir leben in einer Zeit großer Transformationen, wie der Energiewende oder der Verkehrswende. Aus meiner Tätigkeit im Forschungsmanagement kenne ich das Motiv unserer Welt in Bewegung, wie Menschen, Ideen, Dinge sich fortbewegen und warum. Beim ADFC kann ich nun diesen gesellschaftlichen Prozess des Wandels mitgestalten. Die Verkehrswende ist für mich zudem ein sehr persönliches Thema. Ich bin Sportlerin, ich fahre gerne Rad und bin damit in Berlin auch fast täglich unterwegs. Für mich funktioniert Radfahren an vielen Ecken in der Stadt inzwischen gut, an anderen wiederum überhaupt nicht. Das spüre ich besonders, wenn ich mit meinen Kindern unterwegs bin. Es gibt also noch viel zu tun. Außerdem fasziniert mich das Fahrrad an sich. Das Fahrrad ist ganzheitlich gut. Selbst für die, die es nicht nutzen, verbessert es sofort ihren Alltag, weil es Platz spart, keine Emissionen verursacht und die Radfahrenden fit hält. Das Fahrrad ist gut für die Gesellschaft.

    Dennoch sind die Zeiten momentan schlecht für den Ausbau des Radverkehrs. Das Bundesverkehrsministerium hat das Budget gekürzt und die wichtige Reform des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) ist im Bundesrat gescheitert und damit auch die Reform der Straßenverkehrsordnung (StVO). Was sehen Sie vor diesem Hintergrund momentan als Ihre wichtigste Aufgabe?
    Wir befinden uns in der Tat gerade in einer schwierigen Lage. Die StVG-Reform ist nach wie vor unser zentrales Thema. Sie ist die Basis für den Ausbau des Radverkehrs, das bekommen wir auch aus den Bundesländern gespiegelt. Deshalb führen wir seit Monaten viele Gespräche auf allen erdenklichen Ebenen. Wir brauchen mehr nachhaltige Mobilität in den Städten. Dafür ist das gemeinsame Auftreten mit vielen, die am selben Strang ziehen, wichtig, um unseren Argumenten mehr Gewicht zu verleihen.
    Das zweite Thema ist die Finanzierung. In Zeiten schwieriger Haushalte ist das ein dickes Brett. Wir wollen erreichen, dass die Finanzierung des Radwegausbaus dauerhaft mit der notwendigen Fahrradmilliarde vom Bund gesichert wird. Nur dann erhalten die Kommunen die notwendige Planungssicherheit und können auch die Fördermittel abrufen. Ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen. Wir haben die Vernunft auf unserer Seite. Wir können mit dem Radverkehr an ganz vielen Stellen Lösungen anbieten.

    Was meinen Sie damit? In welchen Bereichen kann der ADFC der Bundesregierung helfen, ihre Ziele zu erreichen?
    Etwa beim Klimaschutz. Das Klimaschutzpotenzial des Radverkehrs ist groß. Wir haben gerade mit Unterstützung vom Fraunhofer ISI das enorme Einsparpotenzial berechnet, das entsteht, wenn durch gute Infrastrukturangebote Verkehr vom Auto auf das Rad verlagert wird. Wir brauchen diese wissenschaftlich basierten Fakten, um die Vorteile des Radverkehrs noch stärker aufzuzeigen. Weiteres Potenzial sehe ich in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Laut einer WHO-Studie von 2020 leiden mittlerweile 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen weltweit an Bewegungsmangel. Das kann zu Übergewicht führen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gelenkproblemen oder auch zu motorischen Einschränkungen. Die Kinder nehmen die Bewegungsarmut und ihre Folgen mit in ihr Erwachsenenleben. Deshalb lohnt es sich bereits heute für Arbeitgeber, selbstständige Kindermobilität zu fördern. An dieser Stelle kann der ADFC neue Partner finden. Wenn die Kinder mit dem Rad zur Schule oder zu Freunden radeln, kommen sie in Bewegung.

    Momentan scheitern viele Verbesserungen für den Radverkehr an der Bundespolitik. Was ist in dieser Legislaturperiode für den Ausbau des Radverkehrs überhaupt noch drin?
    Ich komme aus der Wissenschaft. Meine Politikarbeit war Lobbyarbeit und Politikberatung. Ich bin überzeugt, dass wir als Verband mit unseren Inhalten in die Politik wirken, wenn wir gute Argumente haben und diese zur Verfügung stellen. Dazu gehört, dass wir intensive Gespräche führen, um einseitige Positionen in der Gesellschaft aufzubrechen. Ich bin überzeugt, dass man den Ausbau des Radverkehrs nicht gegen etwas anderes durchsetzen kann. Im Gegenteil, wir müssen den Ausbau des Radverkehrs mit anderen Dingen und Verkehren zusammen denken.

    Den Klimaschutz hatten Sie bereits erwähnt, aber wie kann man den Radverkehr mit anderen Verkehren zusammen denken?
    Unser verkehrspolitisches Programm zeigt dafür verschiedene Beispiele. Etwa Tempo 30 als Standard in Ortschaften – und Verkehrsberuhigung in Wohngebieten. Wenn das Verkehrstempo gering ist, vertragen sich die Verkehrsarten viel besser – und fühlen sich auch angenehmer und sicherer an. Im Grunde geht es aber immer auch um eine gemeinsame neue Organisation des öffentlichen Raumes.

    Auf Bundesebene ignoriert Verkehrsminister Volker Wissing jedoch die wissenschaftliche
    Erkenntnis, dass ein geringeres Tempo wie etwa 30 in Städten das Unterwegssein für alle Verkehrsteilnehmer sicherer macht. Was tun, wenn Fakten ignoriert werden?
    Man darf sich von den Fakten und der Vernunft nicht abbringen lassen. Der ADFC hält an der sachlichen Diskussion und seiner klaren Haltung fest. Es ist wichtig, die Argumente zu wiederholen, die vernünftig sind, um den Radverkehr auszubauen.

    Als ausgebildete Mediatorin helfen Sie zerstrittenen Parteien, ihre Konflikte konstruktiv beizulegen. Benötigt die Verkehrswende eine andere Kommunikationsstruktur?
    Auf jeden Fall. Die Verkehrswende ist eine große gesellschaftliche Veränderung. Um sie gut zu gestalten, brauchen wir kreative Lösungen. Dafür müssen viele Beteiligte gehört werden; wir müssen respektvoll miteinander kommunizieren, um neue Lösungen zu finden. Es geht in der Mediation nie darum, dass eine Partei recht bekommt, sondern dass man im Laufe des Prozesses einen dritten oder vierten Vorschlag findet, auf den sich alle einigen können.

    Andere NGOs, wie Changing Cities, haben in den vergangenen Jahren über die Radentscheide den Ausbau der Radinfrastruktur eingefordert und massiv vorangebracht. Diese NGOs treten in ihrer Kommunikation oft eher aggressiv auf, greifen politisch Verantwortliche mit harscher Kritik direkt an, wenn ihre Forderungen nicht umgesetzt werden. Ist der ADFC vielleicht etwas zu brav?
    Interessanter Gedanke. Aus meiner Sicht tut der ADFC gut daran, sich seine fachliche Tiefe zu erhalten. Mich beeindrucken unsere Aktiven, die ein wahnsinnig umfangreiches Fachwissen mitbringen und das vor Ort politisch einbringen. Damit bringen sie den Ausbau der Radinfrastruktur in den Kommunen voran. Diese Sachlichkeit und Expertise sind unser Markenzeichen und mir wichtig.

    Also lieber auf der Fahrraddemo mitfahren, als sie selbst zu organisieren?
    Nein, die großen Sternfahrten organisieren wir schon gerne selbst, in diesem Sommer beispielsweise in München, Berlin, Düsseldorf, Dresden, Hamburg, Köln und Frankfurt.

    Seit ein paar Jahren hat der ADFC eine weibliche Doppelspitze.Warum?
    Wichtig sind vor allem unsere Gremien. Sie werden gendergerecht besetzt, weil wir wollen, dass möglichst alle Perspektiven gehört und auch eingebracht werden. Nur wenn das der Fall ist, wird sicheres Radfahren für alle möglich. Wir stärken den Radverkehr, indem wir viele unterschiedliche Menschen aufs Fahrrad bringen. In den Bereichen Gender und der Altersstruktur sind wir bereits relativ gut. Aber wir müssen noch diverser werden und auch Aspekte wie „Herkunft“ stärker beachten. Wenn wir Menschen jeden Alters und unterschiedlicher Herkunft aufs Fahrrad bringen wollen, brauchen wir unter anderem ausreichend Fahrradkurse für Migrantinnen und eine Infrastruktur, auf der alle, langsame und schnelle Radfahrende, sicher gemeinsam unterwegs sind. Wir haben auf diesem Gebiet tatsächlich noch einiges zu tun.

    Viele Städte haben in den vergangenen Jahren den Ausbau des Radverkehrs massiv vorangetrieben, um ihre Klimaziele zu erreichen. Berlin war lange Vorreiter, seit dem Regierungswechsel im Sommer 2023 hat die CDU-Regierung den Ausbau des Radverkehrs jedoch massiv gebremst. Kann der Umbau des Verkehrs zu mehr nachhaltiger Mobilität noch
    gestoppt werden?

    Ich glaube nicht – die Argumente sind einfach zu bestechend. Das wäre auch überaus kontraproduktiv im Umgang mit all den Ressourcen, die investiert wurden in Wissen, Geld und auch dem Potenzial für den Klimaschutz. Ich bin davon überzeugt, dass die Verkehrswende von der Gesellschaft grundsätzlich gewollt ist. Aber die Umsetzung braucht Zeit und vor allem gute Beispiele in den Kommunen.
    Ich war kürzlich in Köln und bin dort am frühen Samstagmorgen mit dem Rad über die Ringe gefahren; das war schon relativ komfortabel. Bislang nicht auf der gesamten Strecke, aber über weite Abschnitte. Auf den Ringen spürt man beim Radfahren, dass die Verkehrswende begonnen hat. Ich bin davon überzeugt, je besser das Radnetz wird, umso mehr wächst auch die Akzeptanz der Menschen für den weiteren Ausbau des Radverkehrs. Wenn sich die Menschen beim Radfahren sicher fühlen, werden sie das Rad häufiger nutzen. Und das ist ein Gewinn für alle.


    Bilder:

    (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


    Nach Insolvenz:

    Deutscher Elektroroller-Hersteller übernimmt UNU

    Für die Elektrorollermarke Unu geht es weiter. Nachdem das Unternehmen im vergangenen Oktober Insolvenz anmelden musste, findet es sich jetzt unter einem neuen Firmendach wieder.

    Bis zu 60 Kilometer Reichweite mit einer Akku-Ladung bieten die Elektroroller von Unu.

    Der im Jahr 2013 von Mathieu Caudal und Pascal Blum in Berlin gegründet Elektrorollerhersteller Unu war im vergangenen Herbst aufgrund einer stark rückläufigen Nachfrage in Verbindung mit gestiegenen Material- und Logistikkosten in eine finanzielle Schieflage geraten. Jetzt konnte Insolvenzverwalter Dr. Gordon Geiser den Abschluss des Insolvenzverfahrens vermelden. Der Elektrorollerhersteller Emco hat die Geschäftsanteile, den Vertrieb und den Service der Marke Unu übernommen. Mehr als 10.000 bestehende Unu-Kunden haben damit auch künftig einen Ansprechpartner in Sachen Service. Allerdings werden Garantieansprüche aus der Vergangenheit nicht übernommen, wie es in einer Mitteilung von Unu heißt.
    Die Fortführung des Berliner Flagship-Stores sowie die Integration einiger Unu-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen geprüft werden.
    Dr. Gorden Geiser erklärt: „Trotz eines äußerst schwierigen Marktumfeldes und der Insolvenz zahlreicher Wettbewerber ist es uns gelungen, eine für alle Beteiligten tragfähige Lösung zu finden. Mit Emco Electroroller GmbH steht uns ein starker Partner zur Seite, der mit über 480 Partnerwerkstätten in Deutschland und einer profunden Marktkenntnis die Werte und das Erbe von Unu wertschätzt und weiterentwickeln wird.“
    Gavin von Schweinitz, Geschäftsführer von Emco Electroroller GmbH, sagt zur strategischen Bedeutung der Übernahme: „Unu steht nicht nur für Innovation und starkes Design, sondern ist eine starke und etablierte Marke. Diese Attribute passen perfekt zu Emco, und wir sind entschlossen, die Marke Unu erfolgreich in unser Portfolio zu integrieren. Die Reichweite einer bekannten und beliebten Marke wie Unu, gepaart mit unserer langjährigen Erfahrung im Markt, ermöglicht es uns, neue Zielgruppen zu begeistern. Wir sind zuversichtlich, dass sich der Markt für Elektromobilität erholen wird und dass Emco und Unu gemeinsam eine führende Rolle in diesem spannenden Zukunftsmarkt einnehmen werden.”

    (jw)


    37,4 Millionen Radurlauber

    ADFC-Radreiseanalyse zeigt differenzierte Entwicklung

    Die verschiedenen Arten der Ausflüge und Reisen mit dem Rad entwickeln sich sehr unterschiedlich. Die repräsentative ADFC-Radreiseanalyse untersucht erstmals neue Segmente des Radtourismus und wird diesen Unterschieden dadurch besser denn je gerecht.

    Der ADFC hat seine jährliche Radreiseanalyse neu aufgesetzt und sie auf der Internationalen Tourismusbörse (ITB) präsentiert. Die Umfrage schnitt 2024 mit einer Rekordbeteiligung ab. In der Bilanz ergab die Analyse, dass 37,4 Millionen Menschen in Deutschland das Rad im Urlaub und für Tagesausflüge nutzten. Gegenüber 2022 ist die Zahl der Radreisenden zurückgegangen, die Zahl der Tagesausflüge aber deutlich gestiegen. Der ADFC hat erstmals auch die täglichen Ausgaben erhoben, die die Reisenden tätigen.
    ADFC-Tourismusvorstand Christian Tänzler sagt: „Mit dem Relaunch der ADFC-Radreiseanalyse machen wir das riesige Potenzial des Radtourismus erstmals komplett sichtbar. Und die Zahlen sind beeindruckend: Gut 37 Millionen Menschen in Deutschland sind 2023 im Urlaub und auf Tagesausflügen Rad gefahren, das ist mehr als die Hälfte der Erwachsenen. Deutschland ist eben das beliebteste Radreiseland der Welt. Trotz rückläufiger Zahlen bei den Radreisen freue ich mich über einen Trend besonders: 2024 wollen wieder mehr Menschen Radreisen unternehmen und auch häufiger im Urlaub Fahrradfahren. Das ist ein gutes und wichtiges Zeichen.“
    Nach dem Relaunch nimmt die Untersuchung nun vier Segmente des Radtourismus in den Blick. Neu ist neben den klassischen Radreisen und Tagesausflügen auch das Radfahren im Urlaub, wenn es nicht das Hauptmotiv der Reise ist. Dieses Segment, so zeigt sich, ist groß: 10,6 Millionen Menschen sind 2023 im Urlaub Rad gefahren, mehr als die Hälfte hat das Rad dabei mindestens an zwei Dritteln der Tage genutzt.
    Ebenfalls neu ist die Kategorie der Kurzradreisen mit ein bis zwei Übernachtungen. 2023 haben fünf Millionen Menschen insgesamt sieben Millionen dieser Kurzreisen unternommen. Klassische Radreisen verzeichnen dagegen einen deutlichen Rückgang. Statt 4,6 Millionen Menschen wie in 2022 haben nur 3,6 Millionen Menschen 2023 eine Reise aus dieser Kategorie auf sich genommen. Die Entwicklung der Tagesausflüge ist gegenläufig. Die Gesamtzahl der Tagesausflüge stieg um 10 Millionen, von 445 im vorletzten auf 455 Millionen im letzten Jahr.

    Erstmals erhoben: Tagesausgaben

    Um zu schätzen, wie wirtschaftlich bedeutsam der Radtourismus in Deutschland ist, hat der Fahrradclub auch die Ausgaben der Radreisenden untersucht. Kurzreisende gaben im Schnitt 130 Euro pro Tag aus, wodurch dieses Segment insgesamt auf zwei bis drei Milliarden Euro kommt.
    Im Segment mit mindestens drei Übernachtungen lagen die Durchschnittskosten bei 117 Euro pro Tag, was in der Summe 6 bis 7 Milliarden Euro bedeutet. Bei den Tagesausflügen investierten die Radreisenden rund 32 Euro weniger.
    Die Gesamtausgaben lagen 2023 bei etwa 14 bis 15 Milliarden Euro. Wer im Urlaub Rad fuhr, gab im Schnitt 123 Euro pro Person und Tag aus.

    Beliebte Ziele ähnlich wie 2022

    Wenig verändert haben sich die Ergebnisse, wenn es darum geht, welche Radfernwege und Radreiseregionen beliebt sind. Die Favoriten verlaufen an der Weser, der Elbe und der Ostseeküste, alle Radfernwege in den Top 10 führen an Gewässern entlang. Die meistbesuchten Regionen sind die Grafschaft Bentheim-Emsland-Osnabrücker Land, Bodensee, die schleswig-holsteinische Ostsee- und die niedersächsische Nordseeküste.

    (sg)


    Wirtschaftsfaktor Fahrrad & Co.

    Nachhaltige Mobilitätswirtschaft sorgt für 118 Milliarden Euro Wertschöpfung

    Ein Bündnis aus vier Mobilitätsverbänden, darunter Zukunft Fahrrad, hat eine Studie präsentiert, die die wirtschaftliche Bedeutung der nachhaltigen Mobilitätswirtschaft beziffert. Außerdem wurden zehn gemeinsame Forderungen aufgestellt.

    Vier Verbände haben gemeinsam den volkswirtschaftlichen Nutzen alternativer Mobilitäts-formen untersucht.

    1,7 Millionen Beschäftigte und 118 Milliarden Euro Wertschöpfung. Diese Kennzahlen hat die Studie „Volkswirtschaftliche Effekte der nachhaltigen Mobilitätswirtschaft“ hervorgebracht, die von einem Bündnis aus Zukunft Fahrrad, der Allianz pro Schiene, dem Bundesverband CarSharing (BCS) und dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen in Auftrag gegeben und durch das Conoscope-Institut umgesetzt wurde. Der Wirtschaftsstandort Deutschland profitiere stark von den Unternehmen der nachhaltigen Mobilitätswirtschaft, resümiert das Bündnis die Ergebnisse mit Blick auf die Wertschöpfung, aber auch hinsichtlich der Beschäftigungs- und Einkommenseffekte.
    Untersucht wurden der Schienenverkehr, der Busverkehr, die Fahrradwirtschaft, das Carsharing sowie die Taxibranche in ihrer Gesamtheit als Wirtschaftsfaktor für Deutschland. Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen wurden hinsichtlich direkter, indirekter und induzierter (durch die Einkommen der Beschäftigten hervorgerufenen) Effekte unterschieden. Die direkte Wertschöpfung liegt bei 34,9 Milliarden Euro, indirekt und induziert führt die nachhaltige Mobilitätswirtschaft weitere 82,7 Milliarden Euro an Wertschöpfung herbei. Der Multiplikator zwischen diesen Werten liegt bei 2,4 und damit höher als in vielen anderen Branchen (Automobil: 2,1; Chemie: 1,9; Luftfahrt 1,7). „Jeder Euro, der durch Unternehmen der nachhaltigen Mobilitätswirtschaft in Deutschland erwirtschaftet wird, erzeugt eine zusätzliche Wertschöpfung in Höhe von 2,40 Euro“, erklärt das Bündnis.
    1,7 Millionen Voll- und Teilzeitbeschäftigte finden aktuell durch die nachhaltige Mobilitätswirtschaft Arbeit. Davon sind 499.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter direkt bei den Betrieben des Wirtschaftszweigs beschäftigt, der Rest etwa bei Zulieferern und nachgelagerten Dienstleistern. Insgesamt werden 66,8 Milliarden Euro an Einkommen generiert, davon 22,9 Milliarden direkt in der nachhaltigen Mobilitätswirtschaft.
    Wasilis von Rauch von Zukunft Fahrrad fasst bei der Pressekonferenz in Berlin zusammen: „Wir können eben zeigen, dass die nachhaltige Mobilitätswirtschaft sich nicht nur aus Klimasicht für lebenswerte Städte oder eine gerechtere Gesellschaft lohnt, sondern eben auch als volkswirtschaftlicher Aspekt.“ Die volkswirtschaftliche Leistung sei insbesondere im Mittelstand spürbar. Dort könne man gegebenenfalls auch Fachkräfte aus anderen Branchen auffangen. In einer Mitteilung erklärt von Rauch weiter: „Gefragt ist jetzt ein politischer Gestaltungswille, der nachhaltige Mobilität sowohl mit den Zielen Sicherheit, Gesundheit, Klima und Lebensqualität sowie mit Blick auf die wirtschaftlichen Chancen gezielt fördert. So können Bahn, ÖPNV, Fahrrad und Carsharing gemeinsam ihre Stärken ausspielen.“

    Mehr Mobilität mit weniger Verkehr

    Begleitend zur Studie wurde eine Umfrage durchgeführt, die zeigt, dass die Menschen eine Veränderung wahrnehmen. Die Angebote für nachhaltige Mobilität haben sich für 6 Prozent der Befragten deutlich und für 34 Prozent etwas verbessert. Starke Unterschiede ergäben sich allerdings je nach Größe der Kommune. Den größten Handlungsbedarf sehen 80 Prozent der Befragten bei Bus- und Bahnverbindungen. Für 44 Prozent ist eine bessere Radinfrastruktur und für 42 Prozent die Nutzung unterschiedlicher Verkehrsmittel innerhalb eines Weges wichtig. In diesen Forderungen, so betont das Bündnis, stecken große Chancen sowohl für die Verkehrs- als auch für die Wirtschaftspolitik.
    Das Bündnis nachhaltige Mobilitätswirtschaft betont die großen Chancen, die für die Bundesregierung, Länder und Kommunen in der Förderung nachhaltiger Mobilität sowohl für die Verkehrs- als auch für die Wirtschaftspolitik liegen. „Wenn 80 Prozent der Menschen in Deutschland den Ausbau von Bus- und Bahnverbindungen als notwendig ansehen, ist das ein klarer Auftrag an Bund und Länder, die Regionalisierungsmittel zu erhöhen“, sagt Dirk Flege, Geschäftsführer Allianz pro Schiene.

    Zehn Forderungen

    Alexander Möller vom VDV sieht eine Diskrepanz dazwischen, dass die Politik eine maximale Transformation von den Unternehmen und Beschäftigten erwarte, aber nicht passend priorisiere: „Der Ausbau- und Modernisierungspakt aus dem aktuellen Koalitionsvertrag der Ampel ist die Chance, das Angebot des ÖPNV zu erhalten, auszubauen und zu digitalisieren. Dabei müssen Ballungsräume, ländliche Räume und Dienste wie On-demand-Angebote besonders in den Fokus genommen werden. Zusätzlich müssen die Mittel für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz für den Neu- und Ausbau sowie für die Modernisierung der Infrastrukturen im ÖPNV erhöht werden.“ Niemand sollte mehr aufs Auto angewiesen sein, so Möller bei der Pressekonferenz. Im ländlichen Raum könne es derzeit aber schon als Erfolg gewertet werden, wenn das zweite oder dritte Auto abgeschafft werde.
    Das Bündnis fordert weiterhin etwa, die steuerrechtliche Anwendung von Mobilitätsbudgets zu vereinfachen. Auch müssen die Bahnhöfe aufgewertet und die Regionalisierungsmittel erhöht werden.

    (sg)


    Wer Radwege baut, erntet Radfahrer*innen – so weit ist man sich heute in den der Mobilitätswende zugeneigten Gesellschaftsschichten einig. Nach dieser Logik müssten Radwege mit guten Oberflächen sicher noch mehr Radverkehr ernten. Was aber sind gute, moderne Materialien und Beläge für die Radinfrastruktur? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


    Asphalt ist, wenn man nicht gerade auf einem Rad mit Stollenreifen sitzt, der mit Abstand beliebteste Bodenbelag zum Radfahren, da ist man sich einig unter Radfahrenden und Verkehrsplanern gleichermaßen. Asphaltradwege sind eben, fugenfrei und, etwas gepflegt, vergleichsweise langlebig.
    Im Vergleich dazu schneiden wassergebundene Decken, umgangssprachlich Schotterstraßen genannt, meist schlechter ab: Die oberste Schicht kann bei starkem Regen ungleichmäßig abgetragen werden, wodurch Schlaglöcher und Rillen entstehen können.
    Doch Asphalt ist nicht gleich Asphalt (s. auch den Kasten unten), zudem ist es mit der fertigen Asphaltdecke ja manchmal noch nicht getan – gerade in Innenstädten, wo man durch Kennzeichnung Fahrradwege besonders hervorheben will.

    Noch mehr „klare Verhältnisse“ schaffen farblich auffällige mechanische Abgrenzungen. Protected Bikelanes können in besonders sicherheitsrelevanten Stellen eingerichtet werden.

    Zeigen, wer hier das Sagen hat

    Schon vor drei Jahren hatte sich Münster einmal mehr einen Namen als Fahrradhochburg gemacht und einen Preis der Kategorie Infrastruktur eingeheimst, indem eine bereits vorhandene Fahrradstraße nicht nur so benannt und beschildert, sondern die Straße auch noch in voller Breite rot markiert wurde. „Wir wollten ein Zeichen setzen“, erklärte Alexander Buttgereit, damals Abteilungsleiter des Amtes für Mobilität und Tiefbau in Münster. „Das Rot drückt einen ‚Gast-Zustandʻ für den Autofahrer aus, da er die Farbe ja auch von den Radwegen her kennt. Und zugleich ist es der rote Teppich für den Fahrradfahrer.“
    Normalerweise wird für den einfachen roten Streifen sogenannte Kaltplastik verwendet, oder, meist weniger dauerhaft, eine strapazierfähige Farbe. Kaltplastik ist ein gut färbbares, flüssiges Kunstharz, das bei Zugabe eines Härters fest wird. „Bei den Münsteraner Fahrradstraßen haben wir dagegen eine Anstreuung“, so Alexander Merkt von Röhrig-Granit, dem Unternehmen, das für den neuen Belag der Fahrradstraße zuständig war. Bedeutet: Rot eingefärbter Granit gibt der Straße die Farbe. Zunächst wird der bereits vorhandene Asphalt kugelgestrahlt, was ihn gleichmäßig eben macht. „Dann wird Epoxidharz aufgegossen und parallel wird unser Granit mit einer Korngröße von 1 bis 2 Millimeter in das Epoxidharz eingestreut.“ Zwischen 5 und 15 Kilogramm Granulat kommen in den Quadratmeter Harz – genauere Zahlen sind Betriebsgeheimnis. „Die Mischung härtet in weniger als einem Tag aus. Der Belag bleibt dann auch bei Nässe rutschfest“, was ein weiterer entscheidender Vorteil gegenüber der Kaltplastik sei.

    66 %

    der befragten Radfahrenden erklärten,
    dass sie sich auf den grünen Radwegen „sicherer“
    beziehungsweise „viel sicherer“ fühlten.

    Mit hochwertigen Farben, Kaltplastik oder eingefärbtem Asphalt können Radflächen hervorgehoben werden.

    Berliner Farbspiele

    Auch in Berlin treibt man es schon seit 2018 bunt: Die gemeinnützige GB Infravelo GmbH ist eine Berliner Initiative, gegründet von der Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt mit dem Ziel, Radfahren attraktiver zu machen. Ein Teil der Projekte bezieht sich dabei auf die Farbe von Radweg-Oberflächen. So erhielten Radwegflächen eine grüne Oberfläche, um sie klarer zu kennzeichnen und das Parken oder Halten von Pkw und Auslieferfahrzeugen zu verringern. Gleichzeitig wollte man damit den Radfahrenden mehr Sicherheit geben – nicht nur psychologisch: Deutliche farbliche Kennzeichnung führt dazu, dass Autofahrende Radwege besser als solche erkennen.
    2018 bis 2023 gab es eine Begleituntersuchung, die beim Berliner Büro Planungsgemeinschaft Verkehr in Auftrag gegeben wurde. Dabei wurden Nutzer und Nutzerinnen zu den neu angelegten beziehungsweise eingefärbten Radwegen befragt. Der abschließende Schlussbericht dazu ist, so Alexandra Hensel, Kommunikationsleiterin der Infravelo, noch in der Abstimmung. Doch auch der Zwischenbericht von 2022 liefert einige interessante Daten: 66 Prozent der befragten Radfahrenden erklärten, dass sie sich auf den grünen Radwegen „sicherer“ beziehungsweise „viel sicherer“ fühlten. Der Anteil von Menschen, die auf dem Gehweg fuhren, halbierte sich in den Projektgebieten auf knapp sieben Prozent. Auch die Blockade der Wege durch Autos ging um etwa 40 Prozent zurück. Da die Markierung der Wege in deutlichem seitlichem Abstand von parkenden Fahrzeugen aufgebraucht wurde, sank auch die Zahl der Fahrradunfälle in der sogenannten Dooring-Zone im Untersuchungszeitraum drastisch. Für die Farbgebung wurden Kaltplastik und Epoxidharz genutzt.

    Auch auf dieser Fahrradstraße in Münster wurde der farbige Belag fast über die ganze Straßenbreite gezogen, ein starkes zusätzliches Erkennungssignal zum Radfahrer-Zeichen.

    Glaspartikel für mehr Sichtbarkeit

    Jens Weber, Bereichsleiter der Possehl Spezialbau GmbH, sieht Nachholbedarf bei den Radwegen in Deutschland allgemein: „Die bestehenden Systeme, mit denen wir in Deutschland Radwege bauen, weisen viele Mängel auf. Kaltplastik zum Beispiel bietet kaum Griffigkeit, nutzt sich schnell ab und wird bei Regen oder Schnee extrem glatt.“ Das Unternehmen setzt daher auf ein eigenes Produkt. „EP-Grip Velo“ ist eine Mischung aus Gesteinskörnungen und einem Bindemittel auf Epoxidharzbasis sowie wahlweise Glaspartikeln – und die Mischung bietet einige Vorteile. „EP-Grip Velo erreicht eine hohe Griffigkeit, auch bei Nässe“, so Jens Weber. „Außerdem punktet das Mittel durch seine vielen Farbmöglichkeiten, lange Haltbarkeit und Nachhaltigkeit.“ Auch mit diesem Produkt kann man, etwa an Kreuzungspunkten, erhöhte Aufmerksamkeit von Autofahrer*innen durch abgrenzende Farben sehr einfach erreichen. Da die fein eingearbeiteten Glaspartikel das Licht von Scheinwerfer, Fahrradlampe, Straßenlaternen und Co. reflektieren, werden Radfahrende vor allem bei Nacht nochmals besser gesehen. Ein Vorteil ist auch die Einsetzbarkeit auf verschiedenen Untergründen. „Ob auf Asphalt oder Beton, Holz oder Stahl, alles kann der Untergrund für EP-Grip sein“, so Weber, wichtig beispielsweise für Bahnübergänge oder Fußgängerbrücken.Die Kosten des Produkts liegen etwas höher als bei anderen Systemen – unter anderem weil die Verarbeitung komplexer ist und nur von Possehl selbst vorgenommen wird. Doch dafür sparen Städte und Gemeinden langfristig an Wartung und Reparatur. „Die RWTH Aachen hat den Belag geprüft und konnte uns eine etwa fünfmal so lange Haltbarkeit im Vergleich zu Kaltplastik bescheinigen.“ „EP-Grip Velo“ trage somit dazu bei, dass Radfahren in Deutschland sicherer und angenehmer wird. Das Unternehmen sieht seine Lösung dabei auch als Beitrag zur Gestaltung der urbanen Mobilität.

    „Wir haben noch zu wenig Erfahrungswert mit dem Radverkehr auf offenporigen Belägen“

    Alexander Buttgereit, Jade Hochschule, Oldenburg

    Sogenannter Flüsterasphalt kann einerseits eine besonders ebene Oberfläche bilden, Radfahrenden andererseits aber durch schnell ablaufendes Regenwasser mehr Sicherheit und Komfort bieten.

    Flüsterleise im Flow bleiben

    Wenn es aber keine eigene Farbe braucht, beispielsweise auf ohnehin von Straßen separierten Radwegen außerhalb der Stadt – insbesondere Pendlerrouten – dann gibt es heute auch die Möglichkeit, mit speziellem Asphalt zu arbeiten, der für besondere Effekte sorgen kann. Alexander Buttgereit, heute Professor für Straßenbau an der Jade Hochschule in Oldenburg, arbeitet weiter an der Antwort zur Frage: Wie kann ich den Radverkehr straßenbaulich fördern? Seine Studentin Rebecka Sophie Kriete nahm sich in der Abschlussarbeit des Themas an. Gute Griffigkeit, auch bei Regen, geringes Spritzwasser und natürlich leichter Lauf waren wesentliche Punkte, mit denen man Radwege verbessern und somit Menschen für das Radfahren begeistern könnte. Ein Teil des Weserdeichwegs im Landkreis Diepholz ist Teststrecke geworden. Zur Eröffnung kam schon der NDR, mittlerweile sind Stimmen der Radfahrenden eingeholt und das Team arbeitet an einer optimierten Variante.
    Zwei Wesensmerkmale sorgen laut Buttgereit für den perfekten Radwegbelag: „Die verwendete Kon-struktion schafft durch die Walzung einerseits eine sehr ebene Oberfläche. Räder rollen hier sehr leicht. Andererseits haben wir durch den Hohlraumgehalt aber auch einen guten Drainierungsgrad.“ Das bedeutet: Wasser kann schnell durch die Poren des Materials eindringen und versickern. Dadurch kommt es zu weniger Pfützenbildung und zu weniger Spritzwasser – bei Nässe wird man also deutlich weniger von unten nass. „Das erreichen wir durch eine Korngröße von maximal drei Millimetern, das ist kleiner als das kleinste Großkorn der Regelbauweise, sie misst eigentlich 5 Millimeter.
    Ähnlich kennt man das von der Autobahn. Hier heißt dieses Konstrukt Flüsterasphalt. Die Pflege des Weges muss noch weiter erprobt werden, er soll sich ähnlich verhalten wie offenporiger Asphalt auf der Autobahn. „Wege, auf denen wenig gefahren wird, neigen allerdings zur Verkrautung“, erklärt Buttgereit, „wir haben aber noch zu wenig Erfahrungswert mit dem Radverkehr auf offenporigen Belägen, um hierzu Genaueres sagen zu können.“ Dass der neue Radwegasphalt dennoch bereits gut ankommt, zeigen auch die Pläne zweier Städte im Ruhrgebiet, die möglichst noch 2024 erste Wege damit bauen wollten, so Buttgereit.
    Natürlich gibt es auch Nachteile des Flüsterasphalts, vor allem im städtischen Bereich. Wenn, etwa wegen Reparatur der Versorgungsleitungen, aufgegraben werden muss, wird’s ein eher aufwendiger Flickenteppich. „Kleine Stellen zu reparieren, ist teuer – Kleinmengen kosten deutlich mehr“, so Buttgereit. Bei Erschließung neuer Wege dagegen, wo die Versorgung neu gelegt wird, ist es sinnvoll, sich Gedanken um den Radverkehr fördernden Belag zu machen. Doch egal ob Pflaster, Beton oder Asphalt: „Gegen Baumwurzeln ist kein Kraut gewachsen.“

    „Asphalt ist bis zu 100 Prozent wiederverwertbar.“

    Andreas Stahl, Sprecher des Deutschen Asphaltverbandes

    Nicht alles ist wirklich grün

    Farbliche Ausführungen sind übrigens auch bei diesem Flüsterasphalt einfach möglich: Entweder über den Austausch des Granulats – etwa gegen rote Steine – oder per Farbstoffe in den Bindemitteln. Was den Umweltschutz anbelangt, steht hier einerseits die gute Wasserdurchlässigkeit – die Böden werden nicht versiegelt – gegen die reduzierte Wiederverwertbarkeit. „Es gibt hier viel Feinmaterial, das nicht einfach weiterverwendet werden kann“, so Buttgereit, „das stellt eine gewisse Belastung dar. Fünfer-, Achter- und Elfer-Korn könnte man einfacher wiederverwerten. Aber auch hier haben wir noch zu wenig Erfahrung.“ Wird der radfahrfreundliche Asphalt sich durchsetzen? „Das wird der Markt regeln“, so der Experte. Wünschenswert wäre es – vor allem, weil dadurch der Radverkehr weiter angekurbelt wird.

    Wie ist ein Asphalt-Radweg aufgebaut?

    Zunächst ist da das Erdreich und damit der Untergrund, erklärt Andreas Stahl, Pressesprecher des Deutschen Asphaltverbandes DAV e.V. Darauf kommt ein ungebundener, also „loser“ Unterbau. „Das kann zum Beispiel Schotter sein. Er ist nach offiziellem Regelwerk sieben bis zehn Zentimeter stark.“ Der Oberbau – hier also der Asphalt, besteht im Grunde aus Stein, Bitumen als Bindemittel und Luft. Walzasphalt muss – meist mit Walzen – verdichtet werden und kann damit sehr glatt ausgebaut werden. Die andere Option: Gussasphalt. „Er muss nicht gewalzt werden, hat aber kein abstützendes Korngerüst. Für den Radweg braucht er das auch nicht unbedingt: Der Druck, der beim Radfahren entsteht, ist gering.“ Selbst leichte Autos, die etwa für die Instandhaltung den Fahrweg passieren, sind da kein Problem. Bitumen, das als Bindemittel eingesetzt wird, wird in Erdölraffinerien hergestellt. Die hier entstehenden Lieferketten machen das Material teuer. Fast ausschließlich wird für den Radweg der günstigere Walzasphalt verwendet. „Die Nutzung durch Radfahrer kann den Asphalt kaum beschädigen. Was dem Asphalt zusetzt, ist eher die Wurzelbildung von angrenzenden Bäumen, die zu den bekannten Bodenwellen und Aufbrüchen führt.“ Dazu kommt: Das Bitumen wird spröde. UV-Einstrahlung, Wärme und Luftzufuhr wirken dabei zusammen. „Wenn ich einen frei liegenden Radweg habe, altert dieser viel schneller als in einem Tunnel.“ Schneller ist relativ: nach 30 bis 40 Jahren lässt die Elastizität des Materials deutlich nach.
    Auch den Asphalt selbst kann man einfärben: „Zum Beispiel mit eingefärbtem, künstlichem Bindemittel in dünnen Lagen. Das lässt sich nach Wunsch mischen und färben. Außerdem kann ich mit Gesteinskörnungen die Farbe verändern.“ Das ergebe zwar keine kräftigen Farben, sei aber auch eine Stellschraube, um dem Asphalt eine andere Farbe zu geben. Eine Option ist auch die Abstreukörnung – bei Fertigstellung der Fahrbahn wird Gesteinskörnung mit Farbe eingewalzt. Und schließlich besteht auch die Möglichkeit, Glasrundkorn in verschiedenen Farben einzuwalzen – eine sehr dauerhafte Lösung.

    Und die Nachhaltigkeit?

    „Asphalt ist zu 100 Prozent wiederverwertbar“, erklärt Stahl. „Es gibt ganze Regelwerke dazu, welche Asphalt-Zusammensetzungen wieder und in welchem Ausmaß gemischt werden dürfen.“ Dabei wird der Asphalt in Schollen aufgebrochen oder abgefräst. In der Asphalt-Mischanlage wird die Mischung nach Regelwerk zusammengesetzt.
    Allerdings gebe es immer noch Vorbehalte gegen die Wiederverwertung, so Stahl, weil recyceltes Material in manchen Kommunen als minderwertiger Rohstoff angesehen werde. „Die Frage ist für manche, wie definiert man Abfall, wie Sekundärrohstoff?“ Das ist wohl tatsächlich bisher noch nicht wasserdicht festgehalten. Für Wiederverwertung bei angemessener Qualität lässt sich heute aber auch juristisch argumentieren.
    Was den Grundstoff des Radwegs angeht, sei mittlerweile das Vorurteil widerlegt, dass Asphaltdecken den Boden im Gegensatz zu wassergebundenen Decken viel stärker versiegeln – unter anderem, weil Wege ohne feste Asphaltschicht per se höher verdichtet werden müssen. So gab es bereits 2012 ein Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, das zeigte, dass Radwegekonstruktionen wie Asphalt oder Pflaster den darunter liegenden Boden sogar schützen können.

    Andreas Stahl ist Pressesprecher
    des deutschen Asphaltverbandes DAV e.V.


    Bilder: Possehl – Stephan Brendgen Fotodesign, Daniel Rudolph – StadtLandMensch-Fotografie, infraVelo – Dominik Butzmann, Buttgereit, Andreas Stahl

    Das Hochbahnviadukt entlang der Berliner U-Bahn-Linie 1 wird größtenteils für geparkte Autos genutzt und ist durch Verschmutzung, Abgase und Lärm belastet, was die Aufenthaltsqualität stark mindert. Das Reallabor Radbahn plante, diesen Raum im Sinne der Verkehrswende und nachhaltigen Stadtentwicklung auf einer Teilstrecke umzugestalten, um eine leisere, saubere, sichere und klimaresiliente Umgebung zu schaffen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


    Konkret verfolgt das Reallabor Radbahn die Idee, den städtischen Raum unter dem Viadukt in Kreuzberg partizipativ neu zu gestalten und als Testfeld zu erproben. Ursprünglich wurde das Konzept als neun Kilometer langer überdachter Radweg zwischen Oberbaumbrücke und Zoologischem Garten vorgestellt. Jetzt wird es als Prototyp auf einem Testfeld von einigen Hundert Metern in Berlin-Kreuzberg umgesetzt. Die Idee wurde erstmals 2015 vom Verein Paper Planes e.V. präsentiert und wird seit 2019 als Nationales Projekt des Städtebaus vom Bund und vom Land Berlin gefördert sowie gemeinsam mit dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg umgesetzt.
    Das Hauptziel des Reallabors Radbahn war es, das Testfeld gemeinschaftlich zu planen, zu gestalten und umzusetzen. Der Fokus lag nicht nur auf dem Radfahren unter dem Viadukt, sondern auch darauf, die umliegenden Freiflächen umzunutzen und umzugestalten, um verschiedene Nutzungsmöglichkeiten für diesen öffentlichen Raum praktisch zu erproben. Dabei waren insbesondere die zahlreichen planungsrechtlichen Vorgaben, die fachübergreifende Zusammenarbeit mit der Berliner Verwaltung und weiteren städtischen Akteur*innen sowie die verschiedenen Beteiligungsformate wichtig. Dieses komplexe Zusammenspiel ergab weitreichende Einblicke ins gemeinsame Stadtmachen und zeigte zahlreiche Herausforderungen auf, die im Kontext einer nachhaltigen Verkehrs- und Stadtentwicklung entstehen können.

    Das Testfeld unter dem U-Bahn-Viadukt in Berlin-Kreuzberg. Der Blick geht vom Görlitzer Bahnhof in Richtung Mariannenstraße. In der Mitte verläuft der Radweg, links und rechts befinden sich die ehemaligen Parkplätze, die nun entsiegelt, begrünt und mit Aufenthaltsmöglichkeiten ausgestattet wurden. Mobil sein und mobil bleiben – die Radinsel des Radbahn-Testfeldes bietet eine Reparaturstation.

    Rechtliche Vorgaben

    Als zeitlich begrenztes und finanziell klar definiertes Förderprojekt durch Bundes- und Landesmittel bot das Reallabor Radbahn die Möglichkeit, das Konzept der Radbahn in einem kleinen Teilabschnitt in Berlin-Kreuzberg als Testfeld zu realisieren. Das Projekt zu planen und genehmigen zu lassen, gestaltete sich aufgrund der Vielzahl an Beteiligten, komplexen Terminfindungen sowie strikten rechtlichen Vorgaben zäh und zeitaufwendig. Außerdem war das Projekt den verwaltungsrechtlichen Vorgaben sowie den verkehrstechnischen Richtlinien für Radwege und den formalen Anforderungen an Planungs- und Bauverfahren unterworfen. Dazu gehören die „Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen”, die „Empfehlungen für Radverkehrsanlagen”, das Berliner Mobilitätsgesetz sowie der Radverkehrsplan. Zusätzliche Vorgaben gab es aufgrund des Denkmalschutzes, der für das Viadukt der Berliner Hochbahn gilt.

    Etwa drei Viertel der final formulierten Ideen der Bürger*innen flossen in die Genehmigungsplanung ein.

    Komplexe Akteurslandschaften

    Das Testfeld zu planen und zu bauen, erforderte eine enge Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteur*innen der Berliner Verwaltung auf Bezirks- und Landesebene sowie stadtweiten Versorgungsunternehmen und Behörden (Verkehrsbetriebe, Stadtreinigung, Denkmalschutz, Stromnetz und Polizei). Außerdem ergaben sich weitere Abstimmungsprozesse, unter anderem mit den Tierschutzbeauftragten von Bezirk und Stadt, den Berliner Wasserbetrieben und weiteren Parteien. Schließlich wurden in öffentlichen Planungsprozessen zumeist wenig gehörte Personengruppen konsultiert: Dazu gehörten zum Beispiel der Fuß e.V., der Berliner Blinden- und Sehbehindertensportverein, der Sozialhelden e.V., die Seniorenvertretung Friedrichshain-Kreuzberg, der Junge Menschen und Mobilität e.V. sowie die Kidical Mass.
    Die Zusammenarbeit mit der Berliner Verwaltung auf Bezirks- und Landesebene war von Anfang an sehr intensiv. Die Fördermittel gebende Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen (SenSBW) war von Beginn an stark involviert und über regelmäßige Abstimmungsrunden und täglichen Austausch eng daran beteiligt, das Projekt zu entwickeln.
    Die Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt (SenMVKU) war an verschiedenen Stellen des Projekts beteiligt: Sie verfolgte lange Zeit die Idee, eine weitere Teilstrecke zwischen Mariannenstraße und Kottbusser Tor, einschließlich der Kreuzung Skalitzer Straße/ Mariannenstraße, mit entsprechenden Zu- und Abfahrten zu realisieren. In diesem Zusammenhang wurden auch Abstimmungen bezüglich möglicher Lichtsignalanlagen und der verkehrstechnischen Einbindung der Zu- und Abfahrten auf das Testfeld vorgenommen. Weil die Kreuzung und die Zu- und Abfahrten wegfielen, konnte ein zentraler Baustein für den Radverkehr nicht umgesetzt werden. Im Jahr 2021 gab die SenMVKU zudem eine technische Machbarkeitsstudie in Auftrag, deren Ergebnisse Mitte 2023 veröffentlicht wurden. Die mögliche Umsetzung der Studienergebnisse bleibt jedoch bisher offen.
    Als direkter Projektpartner erhielt der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg (BA FK) ein jährliches Budget zur Finanzierung einer Teilzeitstelle, um das Projekt seitens des Bezirksamtes personell zu unterstützen. Ursprünglich war geplant, dass das BA FK die Verkehrsplanung übernehmen würde, jedoch konnte dies nicht adäquat umgesetzt werden. Stattdessen wurde ein externes Planungsbüro beauftragt, was den Start der Verkehrsplanung erheblich verzögerte. Im Jahr 2023 wurden ein neuer Projektleiter beim Bezirk und ein externer Projektsteuerer eingebunden. Unabhängig von den verkehrsplanerischen Abstimmungen gab es Klärungsbedarf zu verschiedenen Themen, darunter Übernahme- und Rückbaupflichten sowie Genehmigungen für die Verkehrsführung und zahlreiche Sondergenehmigungen für Veranstaltungen unter dem Viadukt.

    Ursprünglich wurde das Konzept als neun Kilometer langer überdachter Radweg zwischen Oberbaumbrücke und Zoologischem Garten vorgestellt. Jetzt wird es als Prototyp auf einem Testfeld von einigen Hundert Metern in Berlin-Kreuzberg umgesetzt.

    Streckenplan der sogenannten Radinsel, die als Aufenthaltsfläche und Service-Einrichtung in der Mitte des Testfeldes für die Bedürfnisse von Radfahrenden konzipiert wurde.

    Partizipativer Planungsprozess

    Die Neugestaltung der Fläche unter dem Viadukt basiert sowohl auf den oben beschriebenen planerischen Rahmenbedingungen und komplexen Akteurslandschaften als auch ganz wesentlich auf den Ergebnissen verschiedener Beteiligungsverfahren. Die bestehenden finanziellen, regulatorischen und administrativen Restriktionen bestimmten einerseits maßgeblich den Beteiligungsgegenstand und -spielraum und waren andererseits fortwährend offenzulegen, um realistische, glaubhafte und verbindliche Beteiligungsprozesse zu gewährleisten.
    In insgesamt vier verschiedenen Beteiligungsformaten wurden Bür-gerinnen sowie diverse Interessenvertretungen und Stakeholder in die Planungen einbezogen: ein mehrstufiges Bürgerbeteiligungsverfahren zur Gestaltung der Freiflächen, ein Radbahn-Gespräch zur Barrierefreiheit des Testfeldes sowie zwei Stakeholder-Workshops zu grün-blauen Infrastrukturen sowie zu Erfahrungen des gemeinsamen Stadtmachens. Diese Formate entwickelten sich organisch und bauten inhaltlich aufeinander auf. Das wurde durch die enge Zusammenarbeit zwischen eigenen Planerinnen und dem Team für Öffentlichkeitsarbeit und Partizipation sowie externen Planungsteams ermöglicht.
    Die Empfehlungen aus dem Bürgerbeteiligungsverfahren wurden als finale Vorschläge an das Freianlagen-Planungsteam übergeben. Sie dienten als Planungsgrundlage dafür, das Testfeld auszugestalten. Das Planungsteam griff die Idee der „Inseln”, verbunden durch großzügige Grünflächen, auf und entwickelte sie weiter. Etwa drei Viertel der final formulierten Ideen der Bürgerinnen fanden Einzug in die Genehmigungsplanungen. Dies erforderte neben der engen Zusammenarbeit aller Akteurinnen eine Sensibilität und Ernsthaftigkeit des Planungsteams gegenüber Beteiligungsprozessen und -ergebnissen.

    Einblick in den Stakeholder-Workshop zum Thema „Lust und Frust des gemeinsamen Stadtmachens“. Im November 2023 diskutierten verschiedene Akteur*innen der Berliner Stadtentwicklung über Perspektiven, Erfahrungen und Erfolgsfaktoren urbaner Transformation.

    Lust und Frust des gemeinsamen Stadtmachens

    Mit dem Status eines Experimentierlabors und der direkten Partnerschaft mit dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg war die Erwartung verbunden, personelle Unterstützung durch einen direkten Ansprechpartner zu haben, langwierige hausinterne Prozesse zu beschleunigen und schneller von der Planung in die Umsetzung überzugehen. Diese Erwartungen erwiesen sich als zu optimistisch. Ursprünglich war die Testfeld-Öffnung für den Herbst 2021 geplant, doch aufgrund verschiedener Verzögerungen wurde sie mehrfach verschoben. Langwierige Abstimmungsprozesse zu Zuständigkeiten und der Kostenverteilung trugen zu mehrfachen Umplanungen bei.Schließlich begannen die Bauarbeiten für das Testfeld im November 2023, und die Fertigstellung erfolgte im April 2024. Das entspricht einer Verschiebung um knapp zwei Jahre im Vergleich zur ursprünglichen Planung, die nur teilweise durch eine Laufzeitverlängerung um neun Monate aufgefangen werden konnte.
    Die Umgestaltung der Kreuzung Mariannenstraße/Skalitzer Straße sollte ursprünglich allen Verkehrsteil-nehmerinnen ein sicheres Überqueren ermöglichen und gleichzeitig einen reibungslosen Zugang zur Radbahn ermöglichen. Dies sollte als Prototyp dafür dienen, wie sich ein mittig verlaufender Radweg gestalten lässt. Gleichzeitig sollte die Kreuzung das Testfeld in das geplante Radinfrastruktur-Netz Berlins integrieren, da die Mariannenstraße bereits eine Fahrradstraße ist. Diesen Plan umzusetzen, gestaltete sich jedoch äußerst komplex und ressourcenintensiv. Trotz monatelanger Bemühungen und Verhandlungen mit verschiedenen Projektbeteiligten liegt seit Ende des vergangenen Jahres die Verantwortung für Planung, Bau und Finanzierung bei der SenMVKU in Zusammenarbeit mit dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Anfang 2024 hielten die neuen Verantwortlichen fest, dass es aufgrund fehlender Mittel vorerst nicht möglich wäre, die Planung der einzubindenden Kreuzung fortzuführen. Die Zusammenarbeit mit der Berliner Verwaltung verlief in vielen Fällen zielgerichtet und erfolgreich. In einigen Situationen waren jedoch aufgrund unterschiedlicher struktureller Logiken und inhaltlicher Differenzen deutliche Grenzen spürbar – wie beispielsweise bei der Umgestaltung der Kreuzung. Die Vielzahl und Komplexität der Abstimmungs- und Genehmigungsprozesse, personelle Engpässe und unterschiedliche Vorstellungen führten zu zeitlichen Verzögerungen und zahlreichen Kompromissen bei der Umsetzung einzelner Elemente des Testfeldes, teilweise sogar zu ihrem Wegfall. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Reflexionen vor allem individuelle Erfahrungen und Perspektiven des Reallabors Radbahn widerspiegeln. Die Ergebnisse eines zweiten Stakeholder-Workshops zum Thema „Gemeinsames Stadtmachen“ stützen jedoch diese Einschätzungen: Auch dort wurden einige zentrale Punkte wie Bürokratieabbau und eine gute finanzielle Ausstattung der Bezirke als entscheidende Erfolgsfaktoren einer gelingenden urbanen Transformation genannt. Andere Aspekte zielten darauf ab, die langfristige Finanzierung und Weiterführung von einmal projektfinanzierten Neuerungen sicherzustellen sowie Prozesse und administrative Strukturen zu optimieren. Diese Ergebnisse sind insgesamt bemerkenswert, da sie von einer heterogenen Gruppe von Stadtmacherinnen inklusive Verwaltungshandelnden gemeinsam diskutiert und bewertet wurden. Sie sind daher keine Einzelmeinungen, sondern Ausdruck gemeinschaftlicher Erfahrungen im Kontext städtischer Umgestaltungsprozesse und verdeutlichen, dass die Umsetzung integrierter Projekte im Rahmen einer nachhaltigen Verkehrs- und Stadtentwicklung ein fortlaufender Lernprozess ist. Dieser erfordert es, dass sich die Projekte an die Strukturen der Verwaltung annähern und dass die Verwaltung offen ist für die Visionen und Motivationen einzelner Umsetzungsprojekte.

    Dr. Maximilian Hoor ist Geschäftsführer des Reallabor Radbahn gUG und promovierte an der TU Berlin zu Mobilitätskulturen und dem städtischen Radfahren. Beim Projekt Reallabor Radbahn Berlin ist er für die Partizipation, Evaluation und die wissenschaftliche Begleitung des Projektes verantwortlich.

    Dr. Silke Domasch koordiniert die übergreifenden Studien des Reallabors Radbahn Berlin und ermöglicht als Expertin für Beteiligung vielfältige Diskussionen und Dialoge mit allen Beteiligten, vor allem den Bürger*innen, dem Beirat und anderen Stakeholdern.


    Bilder: Reallabor Radbahn, Illustration: Lena Kunstmann, Plan: fabulism – Reallabor Radbahn